Ein klarsichtig schwacher Mann

Unschärferelation der Gefühle: Neil Belton beschreibt das Exil von Erwin Schrödinger – „Ein Spiel mit geschliffenen Klingen“

Innerhalb weniger Tage verliert die in Wien lebende jüdische Fotografin Hansi alle ihre Rechte. Die etwa dreißigjährige Frau wird Opfer nationalsozialistischer Sanktionen: Der Metzger verweigert ihr den Zutritt zu seinem Geschäft, Beamte beschlagnahmen ihre Wertgegenstände – und die Nachbarjungen, die sie vor dem Einfall Hitlers noch gegrüßt haben, bewerfen sie nun mit einem Hundekadaver. Eine erschreckende Szene, die der irische Autor Neil Belton in seinem ersten Roman schildert. „Ein Spiel mit geschliffenen Klingen“ heißt dieser – was nach Agentenroman klingt.

Das ist er aber gerade nicht. Dabei steht im Zentrum von Neil Beltons Geschichte eine für jenes Genre durchaus geeignete Figur: der österreichische Physiker Erwin Schrödinger, der 1933 mit dem Nobelpreis geehrt wurde. Der müsste aufgrund der politisch explosiven Konstellation ein gefragter Mann sein – vertraut mit den Geheimnissen wahnhafter Zerstörungskraft. Am Horizont dräut die Atombombe. Belton umgeht allerdings absichtlich die Klischees, die über jene Alchemisten der Moderne kursieren.

Seine Hauptfigur plagen andere Skrupel. Schrödinger lebt seit Jahren mit seiner Ehefrau Annie zusammen, die ein Verhältnis ihres Gatten mit Hilde, der Frau eines Physikerkollegen, duldet, obwohl aus der Beziehung ein Kind hervorgeht. Damit hören die Kompliziertheiten aber nicht auf. Schrödinger flüchtete 1933 vor den Nazis von Berlin nach Wien. Und vor der Annektierung Österreichs beginnt er auch noch ein Verhältnis mit Hansi. Daran kann man sehen, dass Belton dieses Verhältnis als einen gefährlichen Moment persönlicher Blindheit umreißt.

Sein Protagonist – eigentlich ein klarer Kopf – setzt über die ganze Handlung hinweg Scheuklappen auf. Dabei korrespondiert sein chaotisches Gefühlsleben mit dem europäischen Sinkflug in die Barbarei. Das ist schließlich eine bitterböse Szene, in der Schrödinger, nach dem Einfall der Nazis, Hansi bittet, über ihr Verhältnis in Zukunft Stillschweigen zu bewahren. Was dem einen in beiderseitigem Interesse vernünftig erscheint, erweist sich für die andere als brutale Zurückweisung.

Belton hat sein Material beachtenswert gut im Griff – solange es sich im Schnittpunkt zwischen den persönlichen Belangen der Figuren und dem historischen Drama bewegt. Eine der besten Szenen ist dann gerade jene, in der Schrödinger einem irischen Einwanderungsbeamten erklären muss, warum er sich gleich mit zwei Frauen und einem Kind auf das erzkatholische Eiland retten möchte.

In Irland spielt sodann der größte Teil von Beltons Roman. Genau genommen bildet das Jahr 1941 die Rahmenhandlung. In zahlreichen Rückblenden und Fokussierungen erfährt man, wie Annie und Hilde samt Kind in psychotischer Beengtheit hausen, aus der Schrödinger abermals in die Arme einer jungen Frau flieht. Diesmal ist es die rebellische Schauspielerin Sinead. Und wir gewahren im Grunde die Darstellung eines schwachen Mannes. Beeindruckend talentiert, ist Beltons Hauptfigur gleichzeitig ein Abgrund an Haltungslosigkeit. Aber da beginnen die Probleme mit diesem Roman.

Die Erzählstränge, gekettet an Erwin Schrödingers schwermütige Schuldgefühle, verzweigen sich. Zum einen sieht man, wie Schrödinger und Sinead in irischer Landschaft spazieren gehen, was sich als trivial erweist. Zum anderen beschreibt Belton gekonnt den scheinbar entpolitisierten Dornröschenschlaf des sich im Zweiten Weltkrieg neutral verhaltenden Irland als explosives politisch-soziales Vakuum.

Überall begegnen Schrödinger die Gespenster des Nationalismus, die er bei seiner Flucht hinter sich gelassen zu haben glaubte. Hier nun findet er sie als irische Minderwertigkeitskomplexe vor. Seine Gönner sehen beispielsweise im Gälischen ähnliche Mechanismen wie in der Quantentheorie walten. Dass sich dadurch eigentlich Ressentiments gegen die Briten ausdrücken, vermehrt Schrödingers Unsicherheit.

Das Dublin von 1941 besteht aus lauter unterschwelligen Aggressionen und Unzufriedenheiten. Der durch das Exil sensibilisierte Schrödinger lauscht den Phantomen irischen Unbehagens hinterher. Schade, dass Beltons Roman streckenweise aus den politischen Kakophonien irischer Prägung in übertriebene Introspektiven verfällt – sicher aufgrund der widerstreitenden Gefühlen Erwin Schrödingers, die sich jedoch manchmal wie Beton lesen.

MANUEL KARASEK

Neil Belton: „Ein Spiel mit geschliffenen Klingen“. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007, 457 Seiten, 21,90 Euro