Bis das Nichts vorüber ist

TANZ Eine präzise Bewegungssprache ist das Markenzeichen der Choreografin Kat Válastur. Im HAU ließ ihr neues Stück staunen

Luft im Mund kann ein Problem sein. Vor allem, wenn sie blasenförmig vorkommt und die Wangen apfelgroß aufbläst. Wenn sie sofort wieder nachflutscht, sobald man sie ausgespuckt und zertreten hat. Die sechs TänzerInnen aus Kat Válasturs neuem Stück „Ah! Oh! – A Contemporary Ritual“ haben über eine Stunde lang fast ständig diese Luftblasen im Mund. Wie unkontrollierbare Infusionen. Etwas, ohne das sie entweder nicht sein können oder das sie nicht loswerden können.

In graumelierter Kleidung schieben sie sich anfangs durch den von schwerer Dämmerungsluft angedickten Raum unter einen pulsenden Neonlichtkreis (Licht: Martin Beeretz), die Köpfe etwas geduckt, die Hände zunächst in den Beuteltaschen der Blousons, immer wieder innehaltend, um sich wie schief gewachsen gegen den Raum zu lehnen. Kurze Stills, in denen die uneindeutigen – bedrohlichen oder bedrohten – Gestalten warten, bis das Nichts vorbeigezogen ist.

Die unheimlichsten Metaphern sind die, von denen man ahnt, dass sie sehr präzise sind, und von denen trotzdem nicht klar ist, wofür sie stehen. Sie sind wie das fehlende Wort in einer anderen Sprache. Ideen ohne gegenständliches Gerüst, ohne erlösenden Logos. Etwas ist wie etwas anderes, aber wie was?

Auf der Spur des Unfassbaren

Im Tanz finden sich, etwa wenn technische Übungen in Improvisation übergehen und eine bestimmte Atmosphäre und Bewegungssprache entsteht, viele solcher Metaphern. Ernst genommen werden sie selten. Weil sie kaum fassbar sind, weil sich ihre Komplexität schlecht einschätzen lässt. Also wird das Material zuweilen nur markiert. Bewegung als Kuriosenkabinett: Guck, das hab ich in meinem Studio mal gefunden, weiß aber selber nicht, was es soll.

Die Tänzer-Choreografin Kat Válastur wagt sich in diese Welt der unausgesprochenen Ähnlichkeiten. Mit ihrem Zyklus der letzten Jahre „Oh! Deep Sea“ hat sie durch Bewegung Archetype der Odyssee untersucht. In ihrem neuen Zyklus, gefasst unter „The marginal sculptures of Newtopia“, schafft sie die Fiktionen selbst. Der Tanz ist, schon qua Definition, gleichzeitig das Mittel, mit dem sie sich erzählen lassen und die Äußerung davon, dass sie sich nicht erzählen lassen.

Wenn Kat Válastur nun die Form des Rituals gebraucht, dann spiegelt sie damit wohl bewusst den Ursprung des Tanzes an ihrem eigenen Verfahren: das Wiederholen physischer Gesten mit dem Ziel, Wissen zu generieren, wird bei ihr zu einer tänzerischen Befragung u- und dystopischer Zustände.

Auffällig ist das wiederaufgetauchte „Oh“ aus der Vorgängerserie. Nun kommt es im Titel zusammen mit dem „Ah“ vor: „Ah! Oh!“, beides Laute des Staunens – einmal mit der Nuance des erahnenden, einmal mit der des blanken Staunens –, die als Referenzen auf Alpha und Omega gleichzeitig die Zirkelbewegung des Ritualkreises mitmachen. Etwa in der Mitte des Stücks bilden diese Laute, synkopisch gegen den Beat gesetzt, den Puls der Klanglandschaft. Sie scheinen die Tänzer in eine Andeutung von etwas, was aber nicht erscheint, zu ziehen.

Die Kreuzschritte, die zerdehnten Bewegungen, die gemeinsamen Impulse in polyrhythmischen Patterns, ab und zu von partiellen (electric-boogie-artigen) Körperwellen durchflutet, weichen einer Spannung wie von Körpern am Startblock. Am Ende, nachdem im dritten Teil ein minimalistisches Bild auf Lager- oder Seuchenzuständen verweisen könnte, ist die Spannung gewichen. Es entsteht ein Zustand amöbenhafter Senilität, ungefährlich, fast zärtlich, als sei alles gut, allerdings vor dem Hintergrund eines unendlichen Verlusts.

ASTRID KAMINSKI