Auf Besuch in der betonierten Zeit

ALLTAG Als seine Mutter neun ist, wird die Mauer gebaut – und trennt die Familie. Als er neun ist, fällt sie gerade. Nun fragt sich unser Autor in die Vergangenheit durch

An die Stelle des Betonblocks ist das Onlineland der unbequemen Möglichkeiten getreten. Wie gut

VON JOHANNES GERNERT

Wenn meine Großmutter sich erinnert, dann gleiten ihre Augen von links nach rechts wie Scheibenwischer in einem Regenguss. Es wirkt, als würde sie in sich hineinschauen, als lagerten dort irgendwo alte verschwommene Negative, die sie nur klar genug erkennen muss. Sie sitzt in ihrem gepolsterten Sessel, ihre braune Wolldecke über den Beinen. Sie streicht mit der flachen Hand die Fusseln weg, rhythmisch. „Das vergess ich nie“, sagt sie, wenn sie auf ein Bild gestoßen ist, nach dem ich gefragt habe, eine Anekdote, oder einen Tag. So ein Tag ist der 13. August 1961.

Der Tag, an dem die Berliner Mauer gebaut wurde, hat meine Familie getrennt. Jahrelang durfte meine Großmutter ihre Schwester nicht sehen und meine Mutter nicht ihre Cousinen und Cousins. Es ist eine deutsche Familiengeschichte, eine wie tausende andere, fast schon gewöhnlich. Niemand ist eingesperrt worden, keiner in den Tod gesprungen. Aber je mehr ich mich in diese Vergangenheit durchfrage, desto erstaunlicher erscheint sie mir. Im Alltag spiegelt sich der Irrsinn dieser Mauer, mit der viel mehr zubetoniert wurde als eine Grenze.

Sie hatten vier Wochen Urlaub machen wollen. Meine Großmutter, meine Mutter. Dafür waren sie von Berlin nach Luckau gefahren, von der Großstadt aufs Brandenburger Land, in die Nähe des Spreewalds. In der Kleinstadt wohnten meine Urgroßmutter und Tante Inge, die Schwester meiner Oma.

In Luckau gingen sie zum Schwimmen ins Freibad. Sie wanderten in einen der Nachbarorte, aßen Plinsen und Rollkuchen mit Sahne. Nur manchmal gab es Momente, in denen klar wurde, dass der eine Teil der Familie in der Bundesrepublik lebte und der andere in der DDR. Einmal hat Tante Inge eine große Tüte Tomaten aus dem HO-Laden organisiert. Meine Mutter und ihre Schwester verspeisten zum Abendbrot sehr viele Tomatenbrote, so viele, dass die Tante ganz komisch auf die verwöhnte Westverwandtschaft schaute. Gab es bei denen nicht alles im Überfluss? Vor allem aber war es ein schöner Urlaub.

Dann kam die Nachricht.

Wie sie davon erfahren haben, dass keine hundert Kilometer von ihnen entfernt gerade eine Mauer gebaut wurde? Sie wissen es nicht mehr. „Das kann man ja nur durchs Radio gehört haben“, sagt meine Großmutter. „Im Fernsehen muss das gewesen sein“, sagt Tante Inge. „Der größte Feind des Historikers ist der Zeitzeuge, sagt dein Vater immer“, erklärt meine Mutter.

Eines aber erzählen sie präzise bis auf die Betonung: was meine Großmutter gesagt hat, als ihre Mutter ihr in diesem Moment vorschlug, sie könne doch hierbleiben, in Luckau, falls man sie nicht mehr in den Westen lasse. „Um Go-ho-ttes willen!“

Als die Mauer gebaut wurde, war meine Großmutter 39 Jahre alt und meine Mutter neun. Ich war neun, als sie fiel. Wahrscheinlich habe ich beim Mauerfall zum ersten Mal in meinem Leben gespürt, dass gerade etwas Bedeutendes passiert in dieser Welt da draußen. Die Menschen feierten, umarmten sich und stießen in unserem Fernseher mit Sekt an. Irgendwo müssen da auch Raketen gewesen sein. Ich muss auf dem braunen Sofa gesessen haben, in Ochsenfurt, in Franken, wo meine Mutter aus Liebe zu meinem Vater hingezogen war. Ich dachte vermutlich, es sei Silvester.

Heute wohne ich in Berlin ein paar hundert Meter von der Bornholmer Straße entfernt, wo die Grenze im November 1989 geöffnet wurde. Ich arbeite neben dem Checkpoint Charlie, dem berühmten Grenzübergang, von dem meine Mutter sagt, dass es dort früher nicht viel anders aussah: Viele Leute stehen rum und glotzen. Damals glotzten sie rüber, auf die Sperranlagen der DDR.

Stolpernde Mauertouristen

Wenn ich mit dem Fahrrad zum Hauptbahnhof muss, um nach Westdeutschland zu fahren, komme ich an der Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße vorbei. Ich habe das selten als Gedenkstätte wahrgenommen, sondern meist als den Ort, an dem ständig Touristen auf den Fahrradweg stolpern.

Dort, wo ich lebe, ist so viel Mauer, dass mir nicht viel anderes übrig geblieben ist, als sie zu ignorieren. Würde ich an der Bernauer Straße jedes Mal daran denken, wie meine Mutter 1961 die Bilder der zugemauerten Häuser in der Zeitung sah, wie mein Großmutter von den Menschen hörte, die dort aus den Fenstern in die Freiheit springen wollten, ich hätte wohl schon einige Touristen angefahren.

Vor einigen Tagen habe ich in der Zeitung gelesen, dass die unter 30-Jährigen kaum etwas über die Mauer wissen. Ich bin zwar nicht mehr unter 30, aber ich frage mich trotzdem, ob ich mich zu sehr auf den Fahrradweg und die Touristen konzentriert habe.

Deshalb sitze ich jetzt auf dem Sofa meiner Oma.

„Um Gottes willen“, rief meine Großmutter damals. Sie hatte immer rausgewollt aus Luckau, raus aus der Kleinstadt, wo die Leute so falsch sprachen, falscher ging’s ja gar nicht. Sie wollte nicht Brandenburgisch sprechen, sondern korrektes Hochdeutsch, sie wollte in die Großstadt. Die Luckauer fanden das hochnäsig, aber das störte meine Großmutter nicht. Und jetzt, im Sommer 1961, erhob sich da am Rande Berlins eine Grenze aus Stacheldraht und Steinen, die sie in Luckau einsperren konnte.

Kurz nachdem sie die Nachricht erreichte an diesem 13. August, hat sie die beiden Koffer gepackt, den schönen aus Leder, Koffer ohne Rollen, sie hat sie zum Bahnhof gewuchtet und in Berlin aus der S-Bahn, nach Hause. „Es war klar“, sagt meine Mutter, „wir verabschieden uns hier und sehen uns eine ganze Weile nicht wieder.“

Meinem Opa im Westen brachte die Mauer eine neue Anstellung. Weil sie verhinderte, dass ein Ostberliner weiter an seinen Schreibtisch beim Wohnungsbauverein Neukölln nach Westberlin kommen konnte, fing mein Großvater dort an. Mehr als 50.000 Ostberliner verloren 1961 ihren Job im Westteil der Stadt. Wie dieser Mann, von dem meine Mutter glaubt, dass er Lautensack geheißen haben könnte. Nein, Lautensack war ein anderer, sagt meine Großmutter.

Von nun an arbeitete mein Großvater in der Neuköllner Sonnenallee, an deren Ende die Mauer stand. Manchmal habe ich ihn dort abgeholt, er trug immer diese ochsenblutrote Ledertasche. An eine Mauer erinnere ich mich nicht. Dass sie da stand, weiß ich vor allem aus dem Film „Sonnenallee“ von Leander Haußmann.

Wenn ich meine Großmutter frage, woran sie als Erstes denkt beim Mauerbau, sagt sie: Flugzeuge und Amerikaner. Denen müsse man dankbar sein. Wenn ich meine Mutter frage, sagt sie, dass sie sich noch erinnert, wie sie einige Jahre nach dem Mauerbau meine Urgroßmutter aus Luckau am Bahnhof Friedrichstraße abholte. Sie war jetzt Rentnerin und durfte rüber. Gleißendes Neonlicht, grün gekleidete Beamte. Meine Mutter wiederum fühlte sich nie eingemauert, aber es sei immer aufwendig gewesen, aus Berlin rauszukommen. Für meine Großmutter und für meine Mutter war die Mauer aber etwas, was trennte. Das Monument einer Welt, die auf den ersten Blick so klar und einfach war wie ein Western. USA gegen Russland. Kommunisten gegen Kapitalisten.

Als meine Mutter neun Jahre alt war, wurde eine Mauer gebaut, die ein Weltbild zementierte. Als ich neun war, ist sie eingerissen worden. Für mich ist die Mauer eine, die fällt. Meine Mutter hat lange in einer Welt gelebt, in der vieles betoniert war. Meine Welt ist eine, die ständig bröckelt. Eine, in der Dinge zusammenbrechen.

Die Mauer, das World Trade Center, Sozialsysteme, EU-Grenzen, Familienstrukturen und jetzt vielleicht auch der Euro. Der Dollar.

Gorbi, Kohl, Gottschalk

Die Mauer war der Versuch, eine Stabilität zu schaffen, die es nicht gibt. Und in dieses Gefühl, dass es sie nicht geben kann, bin ich nach der Wende hineingewachsen. In den Achtzigern, als ich zur Grundschule ging, hieß der Kanzler Helmut Kohl, schon immer. „Wetten, dass . . ?“ moderierte, seit ich Fernsehen durfte, Thomas Gottschalk. Ich weiß noch, wie ich 1991 mit meinem blauen Schlumpfradio hörte, dass sich ein Jelzin in Moskau auf einen Panzer stellte, weil Michail Gorbatschow weggeputscht worden war. Erst verschwand Gorbatschow, irgendwann stürzte Helmut Kohl, und schließlich ging selbst Gottschalk.

„Vom Mauerbau bis zur Maueröffnung“ stand in der zehnten Klasse kurz auf dem Stundenplan. Herr Heidecker war unser Geschichtslehrer, ein großer Mann mit weißem Haarkranz. Hat er uns erzählt, wie Walter Ulbricht diese Mauer 1961 unbedingt bauen wollte, weil er Angst hatte, dass ihm die Fachkräfte weglaufen – und nicht nur die? Weil Anfang August täglich weit mehr als 1.000 Menschen nach Westberlin flohen. Weil die Leute aufgestanden waren am 17. Juni 1953, weil sie wählen wollten – frei. Wir schrieben damals in der Schule nicht in unsere Hefte, wie der Sicherheitssekretär im Zentralkomitee Erich Honecker Material horten ließ, heimlich, 18.200 Betonsäulen, 150 Tonnen Stacheldraht. Wie er den Stacheldraht im Westen nachkaufte.

Das alles lese ich erst jetzt in der Zeitung. Wenn ich an die Geschichtsstunden denke, fallen mir die Römer ein, die Habsburger und Hitler. Die Mauer war noch nicht Geschichte genug.

Ich erinnere mich an Corinna Müller und Christian Anton, die in den frühen Neunzigern zu uns ans Gymnasium kamen. Aus dem Osten. Christian hat mir oft mein Fahrrad repariert und die Kette mit Margarine geölt. Dabei hat er erzählt, wie wenig man in der DDR machen konnte, was man wollte. Wie sie im Kindergarten mit Panzern spielen mussten. Das alles war damals noch zu frisch, um es schon als etwas Historisches zu begreifen.

Es ist ein sonniger Sommerabend, als ich mein Fahrrad vor der Gedenkstätte an der Bernauer Straße abstelle und hineingehe. Drinnen ist es kühl. Touristen laufen an Schwarz-Weiß-Bildern vorbei, die den Stacheldraht der ersten Tage zeigen, die improvisierten Steinmauern. Vom Aussichtsturm aus schaue ich auf die verrosteten Stelen hinunter, die da stehen, wo einmal die Mauer war. Unten fährt mein Alltag vorbei. Ich denke an meine Großmutter, an ihre Schwester und wie sie sich jahrelang nicht gesehen haben, weil Menschen wie Walter Ulbricht dachten, sie müssten anderen Menschen ihre Denkweise aufzwingen. Und wenn die nicht mitmachen wollen, dann werden sie eben eingesperrt – oder erschossen. Es ist so absurd, dass ich es mir nicht richtig vorstellen kann.

„Johannes“, sagt meine Großmutter manchmal. „Wir haben schon was mitgemacht.“

Wir sind die Generation Praktikum, ohne Festanstellung, ohne Rente. Stattdessen drei Millionen Internetunteroptionen, siebenunddreißig Latte-Varianten. Wir leben im Onlineland der unbequemen Möglichkeiten. Wie gut es mir geht.

Am Anfang haben sich meine Großmutter und Tante Inge nur geschrieben. Später durften sie telefonieren. Tante Inge hatte Telefon. Man musste sich verbinden lassen, von Westberlin aus. Aber es war immer klar, dass vielleicht jemand mithört. Es gibt Bilder von meinen Großeltern, wie sie in den Urlaub fliegen. Mein Großvater vor einem Flugzeug. Er winkt in die Kamera, als wäre er ein Präsident. Sein Bauch ist so rund und wohlgenährt wie Westberlin, der eingemauerte, fett gefütterte Fleck im Innern der DDR. Meine Großeltern aßen viel Fassbender-Konfekt, tranken Cognac, wählten Eberhard Diepgen, schauten Harald Juhnke im Fernsehen an und schickten Playmobil und Levis-Jeans nach Luckau. Sie waren Westberliner, wie die Mauer sie geschaffen hatte.

Tante Inge und Onkel Werner sehen auf alten Bildern immer dünn und klein aus. Aber vielleicht macht das auch mein DDR-Bild aus dem Westfernsehen.

Hat die Mauer sie zu unterschiedlichen Menschen gemacht?

Ich wähle 0 35 44, die Vorwahl von Luckau. Jemand hebt ab, laute Fernseherstimmen scheppern. Es ist, als würde ich meine Großmutter anrufen. „Hier ist Johannes“, sage ich und weiß nicht genau, ob ich erkannt werde. „Johannes!“, ruft Tante Inge, ganz freudig. Es muss in den Achtzigern gewesen sein, dass ich zum ersten Mal bewusst in Luckau war. Ich sehe noch den Bahnhof in Königs Wusterhausen, wo sie uns abgeholt haben. Die Trabis kamen mir vor wie Spielzeugautos, so klein, als wären sie aus einer Modelleisenbahnlandschaft gehüpft. Ich weiß noch, wie gut Tante Inges Streuselkuchen geschmeckt hat und wie schön es überall nach Lagerfeuer roch.

Während es heute überall bröckelt, ist die Mauer das Monument einer Welt, die festgefügt und einfach ist

Wir unterhalten uns eine Weile über Inges Kinder, ihre Enkelinnen, mit denen ich damals gespielt habe. Hat Onkel Werner wirklich in der Stadtverwaltung gearbeitet, bis sie ihn wegen der Westverwandtschaft rausgeworfen haben? Und wann haben sich die beiden Schwestern nach dem Mauerbau wiedergesehen? Es muss 1971 gewesen sein, sagt Tante Inge, bei der Jugendweihe. Da seien die Westberliner alle gekommen, da durften sie. Man brauchte eine Begründung, einen Anlass. Ich merke, dass sie tatsächlich anders spricht als meine Oma, mehr Dialekt.

1986 ging Tante Inge in Rente. Zum ersten Mal durfte sie da nach Westberlin. Die Rentner ließ die DDR ja. Weil ihre Arbeitskraft schon aufgebraucht war, fand das Politbüro es nicht schlimm, wenn sie abhauten. So entstand der merkwürdige Effekt, dass viele Menschen im Alter Bewegungsfreiheit gewannen und mobiler wurden.

KaDeWe und Krönung

An der Friedrichstraße nahm Tante Inge vor lauter Aufregung den falschen Ausgang und stand wieder im Osten. Zum Glück hat der Grenzer sie noch mal rausgelassen. Dann Ku’damm, KaDeWe, große Augen, Buttergebäck, Jacobs Krönung.

Ich sage, dass ich ja mal wieder nach Luckau kommen könnte. Das wäre toll, sagt Tante Inge. Jetzt fliege Uwe, ihr Sohn, allerdings in Urlaub, nach Griechenland. Am 13. August geht es los.

Im Dezember 1989 traf sich die Familie zum ersten Mal wieder in Westberlin, in der Wilmersdorfer Wohnung meiner Großeltern, mit dem gewienerten PVC-Boden im Flur und den schweren Teppichen und Polstermöbeln. Ostern 1990 sind wir dann alle nach Luckau gefahren. Die Mauer hat unsere Familie wiedervereint. Nach der Wende sahen wir uns alle so oft, wie wir uns sonst vielleicht nie gesehen hätten. Weil es jetzt ging.

„Das war schlimm“, sagt meine Großmutter. Ständig sei jemand aus Luckau zu Besuch gekommen. „Manche kannten wir gar nicht.“

Meine Großmutter sitzt in ihrem Sessel, vor dem Radio mit den gelöcherten Holzlautsprechern, in dem früher der Rias lief, der Rundfunk im amerikanischen Sektor. Sie schaut durch die Gardinen in den Sommer. Ihre Augen wischen hin und her. „Das vergess ich nie“, sagt meine Großmutter, noch einmal.

Silvester 1961 hat sie Kerzen in Eierbecher gestellt, sie angezündet und zwischen allen Doppelfenstern in der Wohnung platziert. Für die Brüder und Schwestern im Osten. Es war eine große Wohnung, und lange merkte niemand, wie die Eierbecher anschmorten. Als meine Großmutter dann die Fenster öffnete, schneiten die schwarzen Plastikflocken zum Fenster herein.

„Alles war verkohlt, alles war schwarz“, sagt meine Großmutter. Sie klingt aufgewühlt.

Wir essen Kuchen. Ich würde gern mehr über unsere Mauerfamiliengeschichte erfahren, aber meiner Großmutter fällt jetzt vor allem der Russe ein, der immer nach Uhren gefragt hat.

Irgendwann fahre ich zurück nach Prenzlauer Berg. Nach Ostberlin. Einfach so.

Johannes Gernert, 31, ist sonntaz-Redakteur. 2009 erschien seine Ganze Geschichte „Die Planung des Mauerfalls“, nachzulesen unter taz.de/neunternovember