Tiefe Atmung

Das Haustier gongt

Mein Freund meditiert. In unserem Wohnzimmer stehen zwei kleine Meditationsbänke, ein Meditationskissen, eine Meditationsmatte, eine Klangschale mit Klöppel und Räucherstäbchen.

Wenn ich morgens vorm Frühstück den Gong der Klangschale höre, weiß ich, dass ich das Wohnzimmer die nächste halbe Stunde nicht betreten darf. Mein Freund atmet dann. Natürlich atmet er sonst auch, aber dann tut er es eben bewusst. Ich habe schon mal mitgemacht. Aber meine Versuche endeten damit, dass ich mich während der Meditation dabei erwischte, wie ich beim Atmen die Einkaufsliste für die nächste Shopping-Tour zusammenstellte. Frauen sind eben Multitasking-fähig. Sie können ihre Atemzüge zählen und gleichzeitig an andere Dinge denken. Das spart zwar Zeit, entspannt aber nicht.

Neulich hatten wir einen Sammelbesichtigungstermin in unserer Wohnung. Wir wollen umziehen, weil wir uns vergrößern wollen – die neue Wohnung soll ein extra Meditationszimmer für meinen Freund und ein Büro für mich haben. Scharen von potenziellen Nachmietern strömten. Eine der Besucherinnen stand ratlos vor der Meditationsecke. „Habt ihr eine Katze?“, fragte sie dann nach einigem Nachdenken. Ich verneinte und wartete, ob sie beim zweiten Versuch auf die richtige Lösung kam. Kam sie nicht. „Hund?“ war die nächste, zweifelnde Frage. Sie hielt die kleinen Bänke offenbar für Kletterbäume oder sonstige Work-out-Geräte für Haustiere und die Klangschale für den Fressnapf. Den Klöppel benutzten wir in ihrer Vorstellung zum Umrühren von Whiskas oder Pedigree Pal. Mein Freund schaute entsetzt. Vielleicht bilde ich es mir ein, aber seitdem klingt der morgendliche Gong verhaltener als sonst. SANDRA NIERMEYER