„Offener Vollzug wäre die Ausnahme“

Der Vollzugsbeirat kritisiert den Berliner Entwurf für ein neues Jugendstrafgesetz. Der Aspekt der Resozialisierung werde viel zu wenig beachtet

ANNETTE LINKHORST, 34, ist Rechtsanwältin und Vorstandsmitglied des Berliner Vollzugsbeirats.

taz: Frau Linkhorst, was würde sich durch das geplante Jugendstrafgesetz in der Praxis ändern?

Annette Linkhorst: Der Entwurf sieht unter anderem vor, dass die Inhaftierten Anstaltskleidung tragen sollen, also keine eigene Kleidung mehr. Ihnen sind mindestens zwei Stunden Sport in der Woche und mindestens vier Stunden Besuch pro Monat zu ermöglichen. Pakete mit Nahrungs- und Genussmitteln dürfen die Inhaftierten nicht mehr erhalten. Was sich ansonsten ändern wird, lässt sich noch nicht sagen – das liegt daran, dass der Entwurf etwa für die Ausstattung der Anstalten keine konkreten Anforderungen aufgestellt hat.

Was sind die Kritikpunkte des Berliner Vollzugsbeirates an dem Entwurf?

Es gibt viele. Problematisch ist zum Beispiel die Formulierung des Vollzugsziels. Das besteht im Erwachsenenvollzug in der Befähigung des Gefangenen, künftig ein Leben ohne Straftaten zu führen. Im Gesetzentwurf für den Jugendvollzug wird gleichermaßen der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten als Vollzugsziel festgeschrieben. Damit wird eine Gleichrangigkeit beider Ziele normiert. Wir befürchten deswegen, dass mit dieser Gleichstellung eine restriktivere Handhabung des Vollzuges gerechtfertigt werden könnte. Auch und gerade im Jugendvollzug sollte das vorrangige Ziel des Vollzuges in der Resozialisierung bestehen.

Was noch?

Der Gesetzentwurf konstituiert eine Pflicht zur Mitwirkung am Vollzugsziel. Der dem Erziehungsgedanken verpflichtete Vollzug erfordert aber vielmehr eine freiwillige Mitarbeit, die zu wecken und zu fördern ist. Die Ausgestaltung des offenen Vollzuges als Regelvollzug, wie im Erwachsenenbereich, wurde nicht übernommen. Damit ist der geschlossene Vollzug die Regel, der offene Vollzug die Ausnahme.

Was sind die Probleme im Berliner Jugendknast?

Ebenso wie die meisten anderen Berliner Vollzugsanstalten ist auch die Jugendstrafanstalt [JSA] permanent überbelegt. An Behandlung der Inhaftierten findet zu wenig statt: Insbesondere die Angebote von Schule und Ausbildung sind nicht ausreichend. Nach Informationen des Vollzugsbeirates sind 16 bis 26 Prozent der Inhaftierten der JSA Berlin ohne Beschäftigungs- oder schulische Maßnahmen.

Gibt es alternative Gesetzesinitiativen?

Die Bundesländer, die nicht der Gruppe um Berlin angehörten, haben eigene Gesetzentwürfe, die z. T. auch den Strafvollzug für Erwachsene umfassen. Diese zeigen teilweise eine noch restriktivere Tendenz als der Berliner Entwurf. Es gibt auch Musterentwürfe, die progressiver sind, etwa von dem renommierten Hamburger Rechtsprofessor Günter Tondorf. Er schlägt die Einführung eines Belohnungssystems zur Förderung der Teilnahme der Inhaftierten an Schul- und Ausbildungsmaßnahmen vor.

Gibt es eine juristische wie gesellschaftliche Tendenz zu schärferen Sanktionierungen?

Ja. Das zeigt schon die Formulierung des Vollzugszieles. Man bemerkt es aber auch an Entscheidungen in der Praxis. Berlin liegt am Ende der Liste aller Bundesländer bei den vorzeitigen Entlassungen. Heute geht die Tendenz dahin, immer mehr wegzusperren – nehmen Sie nur die aktuelle Diskussion um geschlossene Heime für Kinder.

Was sollte ein „humaner“, an Reintegration ausgerichteter Strafvollzug für junge Erwachsene umfassen?

Er müsste sich zuallererst an Ausbildung und schulischer Bildung orientieren und genügend Behandlungsangebote für die Inhaftierten vorsehen. Dazu gehören ausreichende personelle Kapazitäten. Verwahrvollzug hilft niemandem – weder den Inhaftierten für die Zeit nach ihrer Entlassung noch der Bevölkerung, die an Sicherheit interessiert ist. Erfolgreiche Resozialisierung ist immer noch der beste Schutz vor neuen Straftaten.

INTERVIEW: TORSTEN HASELBAUER