Zur falschen Zeit am falschen Ort

Der 16-jährige Shawn G. wurde auf der Reeperbahn von Türstehern niedergeprügelt, einfach so. Dafür büßen muss niemand. Zwei Angeklagte sollen sich nur „an einer Schlägerei beteiligt haben“

von ELKE SPANNER

Arbeitsunfähig mit 16 Jahren: Shawn G. hat sich sein Leben wohl anders vorgestellt. Aber dumpfe Gewalt ist nicht berechenbar. Einmal zur falschen Zeit am falschen Ort, und alles ist anders als geplant. Shawn war mit Freunden auf der Reeperbahn unterwegs, als er zusammengeschlagen wurde, mit Eisenstangen, einfach so. Jetzt sitzt er im Hamburger Amtsgericht zwei Männern gegenüber, die ihm die schweren Verletzungen zugefügt haben könnten: Schädelbasisbruch, Zerstörung des Mittelohres, zertretenes Gesicht. Die beiden schweigen.

In jener Nacht im März vorigen Jahres hatte es eine regelrechte Treibjagd auf dem Kiez gegeben. Die Jäger: Türsteher mehrerer Clubs. Die Gejagten? Irgendwelche Passanten, die das Pech hatten, gerade zugegen zu sein. So wie Shawn G., damals 16 und heute 18 Jahre alt, der mit zwei Freunden gerade aus der Prinzenbar kam. Die drei hatten gefeiert, der Abend war schön. Sie gingen zur Tankstelle, um sich noch ein Bier zu kaufen. Von dort aus sahen sie, wie sich eine größere Menschenmenge vor der Disco „Docks“ angesammelt hatte. Mehrere Türsteher und Gäste brüllten sich gegenseitig an und gingen tätlich aufeinander los. „Es gab Stress“, sagt Christian B., einer von Shawns Kumpels. Die drei beobachteten weiter, wie die Türsteher sich ins „Docks“ zurückzogen und hinter einer schweren Tür verbarrikadierten. Es dauerte nur einen kurzen Moment, dann kamen sie wieder herausgestürmt, jetzt bewaffnet: Alle hielten Eisenstangen oder andere Schlagstöcke in der Hand und rannten los.

„Plötzlich kamen von allen Seiten Türsteher angerannt“, erinnert sich Shawn G. Wahllos hätten sie auf die Umstehenden eingeschlagen. Die flohen panisch, die Angreifer rannten hinterher. Irgendwann hatten mehrere von ihnen Shawn im Visier. Das Letzte, was er noch weiß, ist, wie er von einer Eisenstange getroffen zu Boden sank. Dann setzt seine Erinnerung erst wieder ein, als ihm ein Arzt im Krankenhaus ohne Betäubung die blutende Lippe näht.

Shawn G. musste notoperiert werden. Er hat überlebt, was zum damaligen Zeitpunkt nicht sicher war. Die Folgen aber wird er sein Leben lang zu spüren bekommen: Das rechte Ohr ist taub. Kopfschmerzen gehören zu seinem Alltag dazu. Psychisch ist er durch das Erlebnis so belastet, dass er nun in psychiatrische Behandlung kommt. Bei seiner Aussage sitzt eine Zeugenbetreuerin neben ihm. Shawn G. braucht ihre Unterstützung. Immer wieder versagt ihm die Stimme, als er von der traumatischen Nacht erzählt. „Ich wollte die ganze Sache längst vergessen haben“, sagt er der Richterin. „Und dann kam plötzlich dieser Brief vom Gericht.“

Seine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann musste Shawn abbrechen. Nachdem er lange gar nicht arbeiten konnte, jobbt er jetzt im Geschäft seiner Eltern. „Da kann ich immer gehen, wenn ich nicht mehr kann.“ Dass jemand für sein Schicksal zur Verantwortung gezogen wird, steht nach diesem ersten Verhandlungstag allerdings noch lange nicht fest.

Auf der Reeperbahn sind damals alle in Panik auseinander gerannt. Niemand hat sich die Gesichter der Verfolger eingeprägt. So kann auch keiner der Zeugen mit Bestimmtheit sagen, dass gerade Mounir A. und Hassan M. die Schläger waren, die nun auf der hölzernen Bank sitzen und regungslos zuhören, gekleidet in dunklen Anzug und Hemd.

Ein Zeuge konnte bisher nur mit Bestimmtheit sagen, dass sie an der Treibjagd beteiligt waren. Eine hohe Strafe haben sie deshalb nicht zu erwarten: Angeklagt sind sie nicht wegen der schweren Verletzungen von Shawn, sondern nur „Beteiligung an einer Schlägerei“.

Der Prozess wird heute fortgesetzt.