die taz vor 12 jahren über die morddrohung gegen die muslimische autorin tasmila nasrin
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Westler mögen die in Bangladesch untergetauchte Schriftstellerin Taslima Nasrin als hilfloses Opfer religiöser Fundamentalisten betrachten. Für die große Mehrheit der Muslime in Indien machen diese Sympathiebekundungen die Autorin noch suspekter. So wird sie zur „Fremden“, die die eigene Kultur bedroht. Viele Muslime verstehen die Empörung über die von Fundamentalisten gegen Nasrin verhängte Todesdrohung überhaupt nicht. Für die Muslime ist das nur ein weiterer Versuch, das Stereotyp der Muslime als bigotter, mittelalterlicher Gemeinschaft zu stärken.

Dies denkt auch ein Großteil muslimischer Liberaler in Indien. Es sind gerade die liberalen Muslime in Südasien und nicht die Fundamentalisten, die am meisten von den kontroversen Äußerungen der jungen Autorin aus Bangladesch schockiert sind. Von jeher neigten die liberalen Muslime immer dazu, eine Doppelexistenz zu führen. Ihr privates Leben und ihre privaten Ansichten sind durchaus denen in anderen Religionsgemeinschaften vergleichbar. Sie werden jedoch Opfer einer seltsamen intellektuellen Paralyse, sobald sich eine öffentliche Kontroverse über Fragen des islamischen Glaubens entzündet. Sei es die Todesdrohung gegenüber Salman Rushdie oder die gegenwärtige Vendetta gegen Taslima Nasrin: Statt sie zu unterstützen, geht man ins Extrem und gibt den oppositionellen AutorInnen die Schuld. Diese Paranoia unter liberalen Muslimen ist besonders akut in Indien, weil sie sich dort nicht nur als Opfer westlicher Vorurteile, sondern auch der hinduistischen Mehrheit sehen. Liberale Muslime sind extrem vorsichtig in Glaubensfragen geworden, nachdem Hindu-Fundamentalisten sie als Verräter verunglimpften, die den Glauben über das Vaterland stellen. Obwohl sie den religiösen Fanatismus verachten, sehen muslimische Liberale immer noch keinen Platz in ihrer Gesellschaft für bilderstürmerische Intellektuelle vom Schlage Taslima Nasrins. Ihre Ängstlichkeit, mit den Fundamentalisten die Klingen zu kreuzen, gibt letzteren aber gerade noch größere Verve. Die Kontroverse um Nasrin hat dieses tragische Paradox der Muslime in Südasien offenbart.

Ajoy Bose, Autor von „The Pioneer“ in Neu-Delhi, taz v. 25. 7. 94