WIR:HIER

Kapitel 7

Sie wollte gewinnen, aber mit der höheren Liga würde auch mehr Training auf sie zukommen, und wie sollte sie das noch unterbringen?

Als Laura den Bus an der Ecke fahren sah, musste sie schon wieder rennen. Seit sie aufgestanden war, hetzte sie dem Tag hinterher. Und das, obwohl sie sich bereits um 6.15 Uhr aus dem Bett gequält hatte. Duschen, Haare waschen, schminken, ihre Kleidung hatte sie schon gestern Abend herausgelegt. Anders schaffte sie es morgens gar nicht. Schnell noch das Französisch-Referat ein letztes Mal durchlesen und ausdrucken, einen Tee und ein Müsli runterschlingen und dann zur Schule. So war der Plan.

In der Realität war auf dem T-Shirt, das sie ausgesucht hatte, Make-up gelandet, dann stand sie vorm Schrank und wusste nicht, was sie stattdessen anziehen sollte. Sie starrte auf die Stapel gefalteter Oberteile und war wie gelähmt. Es war keine Eitelkeit, die sie verharren lies, Laura war einfach zu müde, um eine Entscheidung zu treffen. Nach ein paar Minuten riss sie irgendetwas aus dem Fach und zog es über. Sie fühlte sich den ganzen Tag unwohl darin. Das Shirt war zu kurz. Sie mochte es nicht, wenn der schmale Streifen Haut zwischen Hose und Oberteil nackt war. Hundertmal hatte sie versucht, es runterzuziehen. Genauso oft war es wieder den entscheidenden Zentimeter hochgerutscht.

Dass der Drucker keine Tinte mehr hatte und sie ihren Vater um eine neue Patrone bitten musste, passte zu dem verkorksten Tag. Erst bekam er die Plastikverpackung nicht auf, danach suchte er in aller Ruhe seine Lesebrille, ohne die er die Patrone nicht einsetzen konnte, und auf ihr „Gib mir sie, ich mach das“, hatte er geantwortet: „Laura Schätzchen, jetzt sei nicht schon am Morgen so hibbelig, dadurch dreht sich die Welt auch nicht schneller.“ Dann musste er unbedingt zwei Probeseiten ausdrucken. „Der Drucker will erst noch kalibrieren, besser wäre es, wenn du am Abend deine Schulsachen machst.“ Sie hätte ihn aus Ungeduld am liebsten geschlagen oder laut geschrien.

Da war der Tag für Laura eigentlich schon gelaufen. Sie hätte blaumachen und sich einfach wieder ins Bett legen sollen. Natürlich würden ihre Eltern eine Entschuldigung schreiben, wenn sie darum bat, aber sie konnte die Sprüche dazu einfach nicht ertragen.

„Ja, Laura, ruh dich ein bisschen aus, Papa und ich haben auch hin und wieder geschwänzt. Du bist ein Teenager und hast auch was anderes als nur Schule im Kopf. Hast du vielleicht Liebeskummer?“

Nee, danke. Total verlogen. Ihre Mutter fragte das nur, damit sie den Punkt „Das Kind auch mal über die Stränge schlagen lassen“ auf ihrer monatlich abzuarbeitende Erziehungsliste abhaken konnte.

Der Gipfel dieses unmöglichen Tages, ach was, ein Gipfel an einem ihrer ganz normalen Tage, war, dass Französisch ausfiel. Statt einer Doppelfreistunde machte Herr König Vertretung. Völlig verlorene Zeit, in der sie zusammen Zeitungen lasen und dann einen komplett peinlichen Newspaper-Slam spielen mussten: Jeder spricht drei Minuten frei über einen gelesenen Artikel. Wenn es sich auch noch reimt, gibt‘s ein Sternchen. Was soll man dazu noch sagen?

In der Handball-AG stellte sie fest, dass sie die Turnschuhe vergessen hatte. Sie liebte Handball, und nun hockte sie barfuß am Spielfeldrand. Nach dem Training bat ihr Sportlehrer noch um eine „ganz kurze“ Besprechung. Aus „ganz kurz“ wurde ein halbstündiger Vortrag über Spielermoral, Zusammenhalt, Kampfgeist und Siegeswillen, den sie bräuchten, wenn sie das nächste Spiel gegen das Goethe-Gymnasium gewinnen wollten. „Das sind entscheidende drei Punkte, mit denen wir eine realistische Chance auf den Aufstieg haben.“

Ja, ja, ja! Sie wollte gewinnen, aber sie wusste, dass mit der nächsthöheren Liga auch mehr Training auf sie zukäme, und wie sollte sie das noch unterbringen? Der Vortrag hatte nur bewirkt, dass sie zu ihrem Job zu spät kam. Zweimal in der Woche half sie nachmittags im Büro vom Mieterverein am Bundesplatz aus, den Job hatte ihr Vater vermittelt, sie bekam acht Euro die Stunde, und weil ihre Eltern es „sinnvoll“ fanden, dass sie arbeitet, legen sie auf jede Stunde noch zwei Euro drauf. Das war besser als im Café zu jobben.

Und jetzt stand sie im Regen an der Haltestelle und sah dem Bus hinterher, der ihr eben vor der Nase weggefahren war. Das Rennen hatte nichts geholfen. Damit kam sie auch zur Verabredung mit Ebru zu spät. Sie schickte Ebru eine Nachricht, dass sie es nicht mehr schaffen würde. Die wird sauer sein, es war das dritte Mal hintereinander, dass Laura ihr kurzfristig absagte.

Jetzt war sowieso schon alles egal. Sie zog das Gummi aus ihrem feuchten Haar, das sie zu einem schnellen Knoten zusammengebunden hatte, und schüttelte sich. Kurz überlegte sie nach Hause zu laufen, doch dazu regnete es einfach zu doll. Laura setzte sich ins Wartehäuschen, packte ihr Handy aus, aber nach zwei Minuten war ihr Guthaben alle. Mist! Wie oft hat sie ihre Eltern schon um eine Flatrate gebeten, aber „aus erzieherischen Gründen“ lehnten die immer wieder ab. „Du musst lernen, auch ohne Handy auszukommen. Eure ganze Generation ist vollkommen abhängig vom Internet.“ Bla-Bla-Bla. Da hört das angebliche Verständnis ihrer Eltern für die Jugend nämlich ganz schnell auf.

Endlich zuhause, war sie erleichtert, dass noch niemand da war. Wenigstens einmal am Tag hatte sie ihre Ruhe. Sie ließ Wasser mit extra viel Schaum in die Wanne ein, warf ihr blödes T-Shirt in den Mülleimer und stieg ins heiße Nass. Ganz untergetaucht schaute sie den Schaumbläschen von unten zu, lag, solange sie es aushalten konnte, in der gedämpften Wasserwelt. Dann Ohrstöpsel rein und Stromae hören, den Mann, der sogar zum Tanzen zu müde war. Wie sie. ■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist im Verbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigenVerlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de