Die Ameisen arbeiten am Protest

UKRAINE Ein wenig Distanz ist nötig: In seinem Dokumentarfilm „Maidan“ spart sich Regisseur Sergei Loznitsa jeden Kommentar

Wie die Leute auf dem Maidan-Platz miteinander arbeiten, beeindruckt Loznitsa

VON CRISTINA NORD

Wenn in diesen Tagen im Netz Listen zirkulieren, die die meisterwarteten Filme des Jahres 2015 annoncieren, dann findet sich darauf neben Apichatpong Weerasethakuls „Cemetery of Kings“ oder Jean-Luc Godards „Onomatopoeia“ auch Sergei Loznitsas „Babi Jar“, ein Spielfilm, der von einem Massaker handelt, das deutsche Einsatztruppen Ende September 1941 in der Nähe von Kiew begingen. In zwei Tagen erschossen sie zusammen mit ukrainischen Helfern in der Schlucht von Babi Jar mehr als 33.000 jüdische Ukrainer. Loznitsa möchte das schwierige Sujet so angehen, dass er die Erzählung nicht um einen oder zwei Protagonisten herum errichtet, sondern das Tun des Kollektivs in den Blick nimmt.

Genau das tut er auch in seinem herausragenden Dokumentarfilm „Maidan“, den er in der Zeit zwischen Dezember 2013 und Februar 2014 in Kiew drehte. Loznitsa ist 1964 in der weißrussischen Stadt Baranawitschy geboren, in der Ukraine aufgewachsen, er hat in Moskau Film studiert und lebt seit mehr als einem Jahrzehnt in Berlin. Zu seinem bisherigen Werk zählen unter anderem die Found-Footage-Kompilation „Blokada“ (2006) über die mehrjährige Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht und die Spielfilme „Mein Glück“ (2010) und „Im Nebel“ (2010), die beide im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes liefen.

Auch „Maidan“ war dort im Mai in einer Sondervorführung zu sehen. Loznitsa befasst sich darin mit der Euromaidan-Protestbewegung. Er spart sich jeden Kommentar und macht sich nicht gemein mit den Parolen, der Nationalhymne, den patriotischen Gedichten und Gottesdiensten, er interviewt niemanden, er filmt meist aus der Distanz, in Totalen, in denen viele Menschen, Barrikaden, Rauchschwaden oder Polizeispaliere Platz finden.

Das bedeutet nicht, dass Loznitsa nicht mit den Protestierenden sympathisierte. Als ich im Mai in Cannes ein kurzes Gespräch mit ihm führe, sagt er: „Ich wahre eine gewisse Distanz zu der Situation, obwohl ich mit meinem Herzen dabei bin. Aber um zu filmen, muss man sich ein wenig entfernen. Wenn man das nicht tut, kämpft man, statt zu filmen.“ Wir sitzen im ukrainischen Pavillon, an der Zeltwand hängen blau-gelbe Flaggen, in einer Ecke sind Barrikadenteile wie eine Kulisse aufgebaut.

„Maidan“ fehlen die Dringlichkeitszeichen, mit denen Filme, die in Protest- und Krisensituationen entstehen, oft operieren. Die Kamera bewegt sich so gut wie nie, einmal schwenkt und zoomt sie von einem erhöhten Standpunkt aus, ein anderes Mal wackelt sie, wendet sich ab, kommt an einer anderen Stelle zur Ruhe. „Sie schießen auf Journalisten“, hört man aus dem Off.

Abgesehen von diesen Einstellungen sind die Bilder sorgfältig komponiert, es gibt raffinierte Staffelungen, klare Linien, Einteilungen in Vordergrund, Mitte und Hintergrund. Loznitsa selbst hat die Kamera im Wechsel mit zwei weiteren Kameramännern geführt; als ich ihn frage, wie ihm die Präzision in der unübersichtlichen, zum Teil sogar gefährlichen Drehsituation gelingt, antwortet er: „Solange man einen bestimmten Stil hat, ist es möglich, Ordnung im Chaos zu schaffen.“

Wie genau er das macht, lässt sich schwer in Worte fassen. „Ich weiß nicht, aber wenn ich eine Kamera benutze, finde ich die Komposition sofort. Ich frage mich selbst nicht, wie ich das mache.“ Zu dem charakteristischen Stil gehört, dass die Tonspur nachträglich bearbeitet wird. Viele Geräusche werden verstärkt, herausgefiltert oder hinzugefügt, dabei entsteht eine Soundscape, die allen, die sich Gedanken über die Stellung von Ton im Dokumentarfilm machen möchten, viel Material gibt.

Was in „Maidan“ besonders gut zum Vorschein kommt, sind die Funktionsweise, die Logistik, die Rhetorik von Protest und Aufstand. Man sieht, wie eine Suppenküche organisiert wird, wie Helfer Sandwichs zubereiten, wie Steine von Hand zu Hand weitergereicht werden, bevor sie die militanten Demonstranten in der vordersten Reihe auf die Polizisten schmeißen. Wie die Leute auf dem Maidan-Platz miteinander arbeiten, ist etwas, was Loznitsa beeindruckt. „Können Sie sich vorstellen, dass dies von niemandem gesteuert wurde? Es war selbst organisiert. Wie ein Ameisenhügel: Jeder verrichtet ein kleines Stück der Arbeit, und das Ergebnis ist eine große Leistung.“

Kurz nachdem der Präsident Wiktor Janukowitsch im Februar das Land verlassen und ihn das Parlament in Abwesenheit des Amtes enthoben hat, kommt „Maidan“ zum Ende. Seither hat sich vieles ereignet in der Ukraine, und viele Hoffnungen, die in Bildern des Films noch greifbar sind, haben sich zerschlagen. Die Frage, ob er weiterhin dreht, ob er eine Fortsetzung zu „Maidan“ plant, verneint Loznitsa. „Denn diese Geschichte ist vorbei. Jetzt ist es eine andere Geschichte.“

■ „Maidan“. Regie: Sergei Loznitsa. Ukraine 2014, 130 Min. Läuft am 12. Dezember im Kino Krokodil