Leser müssen Lücken stopfen

„Das Schicksal der Nathalie X“ – trickreiche Erzählungen von William Boyd

Diese Sammlung von elf mittellangen Erzählungen ist nicht umsonst nach der eröffnenden Kinogeschichte betitelt, einer souverän heruntergekühlten, eleganten Satire auf die Mechanismen des Hollywood-Spektakels. Die meisten Erzählungen dieses Bandes entleihen ihre Formsprache dem Film. William Boyd, der ja kürzlich mit seinem vorangegangenen Roman „Ruhelos“ groß rauskam, arbeitet mit harten Cuts, Gegenschnitten, Überblendungen und fliegenden Perspektivwechseln – und trotzdem sind diese Storys zuallererst Literatur und nicht bloß Vorlage für ihre baldige Verfilmung. „Sehträgheit“, die Geschichte über einen Maler, der sich manisch die vergangenen drei glücklichen Jahre rekapitulieren muss, weil ihn seine Frau verlassen hat, beginnt mit einem Eintrag aus einem Kinolexikon, den man wohl poetologisch lesen soll: „Die Sehträgheit ist ein Trick des Auges, die Fähigkeit, die Lücken zwischen den Einzelbildern zu füllen und sie als nahtlos fortlaufend erscheinen zu lassen. So entstehen die bewegten Bilder.“

So entsteht aber auch das scheinbare, letztlich eben doch nur getrickste Vergangenheitskontinuum des verlassenen Malers, dieses Wahrnehmungsgenies. Indem er helle Erinnerungsschnappschüsse wieder aufruft und sie in eine Reihe stellt, vergewissert er sich seiner Vergangenheit. Und so entstehen nicht zuletzt die meisten Geschichten Boyds. Er montiert kurze Szenen, und der Leser stopft die Lücken mit der eigenen Imagination. „Nahtlos“ funktioniert das zwar nicht, und alles verstehen wird man auch nicht, aber seine Kunst besteht darin, diese Schnitte so suggestiv zu setzen, dass man trotzdem gerne mitspielt.

Bisweilen sind die Brüche zu groß. In „Brasilien ist überall“ versucht er die erotisch aufgeladene Brasilien-Manie des Angestellten Wesley Bright ästhetisch zu arrondieren, indem er kleine, leicht verruchte Szenen der Proteus-Figur Liceu Lobo einblendet, der einmal als brasilianischer Senator, einmal als Oberst, dann wieder als Arzt figuriert. Sind das Tagträume Brights? Und welche Funktion haben sie in diesem Kontext? Die Lobo-Szenen sind letztlich zu skizzen- und bruchstückhaft, um sie in einen sinnvollen Zusammenhang mit dem Protagonisten zu bringen.

In einigen Geschichten widmet sich Boyd historischen Stoffen und Figuren – und setzt dabei einiges voraus. „Verklärte Nacht“ etwa nimmt ein paar kryptische Notizen Ludwig Wittgensteins zum Anlass, sie in kleineren Meditationen mit erzähltem Leben zu füllen. Boyd macht Wittgenstein zum Ich-Erzähler dieser Fragmente. So entsteht eine Art Seelenporträt des untröstlichen Sprachphilosophen, das allerdings nur der zu entziffern versteht, der sich etwas auskennt in dessen Werk und Biografie. In „Kork“ wiederum schickt Boyd einen Wiedergänger Fernando Pessoas ins Rennen, der sich im Korkhandel verdingt, und spiegelt dessen fragilen Charakter in einer historischen Abhandlung über die Schwierigkeiten der Korkverarbeitung. Sogar die Marotte Pessoas, sich in verschiedene Heteronyme zu verwandeln, hat ein entsprechendes Äquivalent in den Besonderheiten der Korkgewinnung: „Die Rinde der Korkeiche wird alle acht bis zehn Jahre entfernt, ihre Qualität verbessert sich mit jeder Ernte.“

Boyd ist ein formal trickreicher, abgebrühter Erzähler, der jedoch nur über eine einzige Tonlage verfügt – die des beherrschten, soignierten, noch in der Verzweiflung selbstgewissen Bildungsbürgers. Stilistisch ist das alles andere als gewagt, mitunter sogar ein wenig zu kostbar. FRANK SCHÄFER

William Boyd: „Das Schicksal der Nathalie X“. Aus dem Englischen von Chris Hirte. Berlin Verlag, Berlin 2007, 189 Seiten, 18,50 Euro