„So waren die eben drauf“

Hark Bohms „Nordsee ist Mordsee“ ist immer noch der unbestrittene Klassiker der Hamburg-Filme. Warum das so ist, erzählt Beate Schwartau, Jahrgang 1964 und wie Hauptdarsteller Uwe Bohm ehemaliges Heimkind

taz: Wovon handelt „Nordsee ist Mordsee“?

Beate Schwartau: Er handelt von Jugendlichen in meiner Generation. Von Kinderfreundschaften, von Dschingis, dem Chinesen, und Uwe, dem Arbeitersohn, der mit dem alkoholkranken Vater und der Mutter zusammenlebt. Von der Weise, wie man seine Zeit verbrachte, in dieser Zeit.

Es gibt dieses berühmte Szenenfoto von Uwe, wie er das Auto fährt. Wo er so tut, als ob er gar keine Angst hat.

Das ist ein Klassiker dieser Zeit. Junge Männer in Neubausiedlungen, die lagen immer mit so ’nem Rollwagen unter ihren Autos und machten da irgendwas. Die Szene ist eine meiner Lieblingsszenen. Uwe kommt so halbstark daher und sagt: „Ey, geiles Auto.“ Und der andere kommt unter dem Auto hergeschoben und sagt: „Jo, geiles Auto. Und? Kannste schon rauchen?“ Und dann sagt Uwe: „Na log’n kann ich rauchen.“ „Und? Kannste auch fahren?“ „Klar kann ich fahren.“ Und er lässt sich den Schlüssel zuwerfen und kann dieses umgebaute Auto fahren. Aber er kriegt vor lauter Erregung einen hochroten Kopf. Das ist so etwas, was in diese Zeit gehörte. Man zeigte seine Angst nicht und machte immer einen auf Alleskönner und Größenwahn – auch wenn offensichtlich war, dass man irgendwas nicht konnte und scheitern musste.

Die Szene zu Hause in der Wohnung, mit dem Vater, ist das typisch für das Familienleben?

Nicht für alle. Aber für das Familienleben, so wie ich es erlebt habe. So ein Vater, der Schichtarbeiter und auch tagsüber zu Hause ist, aber dann vor der Glotze hängt, mit dem wenig Kommunikation läuft. Der sich auch nicht für das Kind interessiert. Eine Mutter, die im Supermarkt arbeitet, an der Kasse. Wo das Kind zwar hinkann, aber nicht reindarf, damit sie keine Abmahnung kriegt. Das ist ganz klassisch für diese Neubausiedlungen, die eben noch unfertig waren. Wenn du dir heute Mümmelmannsberg anguckst, ist das bunt und grün. Und auch Steilshoop ist ein halber Wald. Aber in unserer Kindheit waren die Häuser alle nicht fertig. Es sah aus wie Mondlandschaften.

Und den ganzen Tag drückten sich Kinder auf den Straßen rum. Sei es, dass sie nicht nach Hause gehen mochten, oder sei es, weil die Mutter – viele, die da lebten waren allein erziehend – dann arbeitete. Da traf man sich nicht in Wohnungen. Das ist etwas ganz Klassisches. Es wird ja auch die Mutter von Dschingis gezeigt, die allein erziehend ist. Bei allein Erziehenden hat man als Kind Ruhe. Aber sowie irgendwelche Väter anwesend waren, waren die immer eher Unruhestifter. Ich hab das in diesen Trabantenvierteln nie anders, nie eine andere Familienkonstellation erlebt.

Man merkt Uwe an, dass er sich selbst spielt.

In „Nordsee ist Mordsee“ spielen alle Kinder sich selbst. Das macht den Film so brillant. Die mussten gar keine Rollenfindung machen. Uwe, der war halt wie ein Heimkind. So waren die eben drauf. Er ist ein Großmaul. Man raucht und man hat ’ne Jeansjacke an, geht möglichst breitbeinig, mit beiden Händen in den Taschen. Und zeigt auf keinen Fall Schwäche.

Das kann man auch an dieser Floßgeschichte sehen, wie sie abhauen wollen. Da hat Dschingis immer gute Tipps, wie man hier noch mal und da noch mal … Aber Uwe lässt sich nicht reinreden, sondern träumt von der großen, weiten Welt. Und dann sinkt dieses Floß. Dschingis hatte ja Einwendungen gemacht, was man machen muss, damit das Floß nicht sinkt. Aber Uwe war der Alleskönner, ist trotzdem damit los und dann ist das Ding abgesoffen. Dann haben sie es noch mal neu gebaut und konnten tatsächlich ’ne Runde paddeln. Bis sie am Jugendgefängnis strandeten. Das ist natürlich bitter traurig gewesen.

Als ich den Film als Jugendliche, 12 oder 13 war ich, gesehen hatte, da wussten wir schon, dass das Hahnöfersand ist, dass das der Jugendknast ist. So ein bürgerliches Kind hat diese Insel gar nicht entdecken und diese Pointe am Ende nicht schnallen können: Die große Freiheit ist möglicherweise der Jugendknast. Wir haben den Film damals im Kinderheim gesehen. Und es gab ein empörtes Pfeif- und Buhkonzert: „Ach Mann, schade.“

Der Film ist im Heim ganz anders aufgenommen worden, viel direkter?

Ja. Teils hatte man einfach Geschwister, die in Hahnöfersand saßen. Und jeder hätte ihnen das gegönnt, dass sie jetzt irgendwie in Amerika ankommen. Weil man natürlich in diesen Kreisen immer von der großen Befreiung und der großen Freiheit in der Welt träumt.

Du hast gesagt, das ist einer deiner Lieblingsfilme, einfach weil er genau das beschreibt, was du so kennst aus deiner Jugend.

Ja. Ganz einfach unverstellt. Ich war ein Mädchen, das immer in Jungsbanden mitgemacht hat. Da gibt eine Szene in diesem Film. Da ist so eine Göre, die einfach Kaugummi kaut und in dieser Missingsch-Sprache – dieser Regionalsprache, die wir da hatten, diesem Hamburger Slang – ihre knappen Fragen stellt. Auch die ist irgendwie mutig und hat keine Angst und alle sind irgendwie supercool. Da war eben nichts Vergleichbares in anderen Filmen, die ich gesehen habe. Zum Beispiel „Geschichten aus Bullerbü“. Da fuhren ja ganz schön viele drauf ab, das hat mich überhaupt nicht berührt. „Nordsee ist Mordsee“ ist für mich immer noch der einzige Film, der so einen Einblick gibt in diese Jugend, den es überhaupt gibt aus dieser Zeit.

INTERVIEW: GASTON KIRSCHE

„Nordsee ist Mordsee“ läuft am Di, 31. 7., 22.30 Uhr im Freilichtkino im Millerntorstadion. www.3001-kino.de/3001html/openairkino/