THEATERKRITIK: DOSTOJEWSKIJS „DER IDIOT“ IM SCHAUSPIELHAUS
: In den Tiefen der Figuren

ALEXANDER SWOBODA MACHT WAS GROSSES AUS DOSTOJEWSKIJS REINSTER SEELE

Nein, es ist, bei aller Länge (dreieinhalb Stunden immerhin) kein langweiliger Abend. Und ja, dieser Fürst Myschkin, ein Kind im Körper eines erwachsenen Mannes, ist heute so unwahrscheinlich wie zu Dostojewskis Zeiten – die Gesellschaft um ihn herum so unangenehm wie damals, auch wenn Adel heute nicht mehr zur strategischen Heirat verpflichtet. Das besorgen schon die Sachzwänge der bürgerlichen Gesellschaft.

Allerdings – die Notwendigkeit, das im Jahr 2014 auf die Bühne zu bringen, sie erschließt sich nicht. Was am wenn schon nicht zeitlosen, dann aber eben immer noch nicht erledigten Stoff liegen mag, vielleicht aber auch nur an einer gewissen Ratlosigkeit den rund 1.000 Seiten Stoff gegenüber, der Regisseure, Komponisten und Filmemacher seit Jahrzehnten reizt. Wobei die Vorhaben nicht zuletzt Grundlagen großer Schauspielkunst wurden. Eine Figur wie der „Idiot“ Fürst Myschkin, Epileptiker, reine Seele, verfangen in einem Liebeswirrwarr, dessen Parameter er kaum begreift – das ist selbstredend starkes Material.

In Bremen gibt Alexander Swoboda den Myschkin, seine erste große Rolle seit Langem, einer, von dem zu erwarten ist, dass er daraus etwas Großes macht. Und das gelingt ihm durchaus, auch wenn es ein wenig dauert, weil ihn Abt vor allem zunächst als allzu vergeistigte Figur auf die Bühne stellt, die hellsichtig die Gesellschaft reflektiert, ihre Abgründe sieht, aber doch zu ihr gehören will, was nach der Pause in einem grotesk scheiternden Auftritt beim ihm zu Ehren gegebenen Fest dann fast gelingt, weil er die Generalstochter Aglaja, die er ganz anders, aber doch so sehr und so wenig liebt wie die gefallene Nastassja Filippowna, endlich heiraten soll.

Abt lässt das als durchaus virtuosen Slapstick spielen, als grotesken Bruch zum ersten Teil, und macht damit auch bewusst, was den ersten zwei Stunden fehlt: ein dramatischer Zug, der die Potenziale des Ensembles abruft, das lange Mühe zu haben scheint, in Schwung zu kommen.

Matthieu Svetchine gelingt das, der als hinterfotziger Lebedew erst vor Servilität kaum geradestehen kann, aber immer wieder im geeigneten Moment die Maske der Servilität fallen lässt, Justus Ritter schafft es, besorgniserregend schlotternd, als schwindsüchtiger Ippolit, der sich von Myschkin Geld erhofft. Und Nadine Geyersbach glänzt als Nastassja Filippowna, die als großzügig abgefundene Mätresse des Kapitalisten Tozkij einerseits (das Geld) eine gute Partie, andererseits moralisch natürlich schwer tragbar ist, woraus sich eine unheilvolle Gemengelage aus Selbstverachtung, Skrupellosigkeit, Verachtung der verlogenen Gesellschaft und der Erkenntnis ergibt, dass der einzige Weg für sie doch der wäre, nach denselben Regeln zu spielen. Erwähnten wir bereits Geld? Mit fast beängstigender Intensität spürt Geyersbach den Tiefen ihrer Figur nach und findet darin die Traumata einer menschlichen Seele. Das allein ist schon Grund genug, diesen Abend zu sehen.

Von diesen schauspielerischen Glanzlichtern, von denen kaum etwas ablenkt, nicht das mit dem übriggebliebenen Lametta aus dem „Liebestrank“ im Großen Haus, nicht die von Johannes Kühn subtil gesetzten Songs, lebt der Abend, der allerdings eine Antwort auf die eingangs formulierte Frage schuldig bleibt.  ANDREAS SCHNELL

Nächste Vorstellungen: 11. 1. + 15. 2. 18.30 Uhr, sowie 17. + 24. 1., 20. 2. und 14. 4. 19 Uhr. Die Aufführung am 21. 12. ist ausverkauft