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Archiv-Artikel

Die Lücken in der Welt

ABSCHWEIFUNGEN Der Autor Jochen Schimmang beschwört das Glück im herrschaftsfreien Raum

Jochen Schimmang erkundet in seinem neuen Buch „Grenzen Ränder Niemandsländer“ die Topografie seines Lebens. „51 Geländegänge“ verspricht der Untertitel. Es sind Flanerien, die noch einmal gedanklich wichtige Orte der eigenen Biografie abschreiten und als Motivation nutzen, um sein Reflexionsvermögen ordentlich auf Trab zu bringen. Und das gelingt Schimmang grandios. Getragen von einer eleganten, unaufgeregten Diktion, grundgelehrt und nicht auftrumpfend, schweifen seine Ortsbeschreibungen ab und aus.

Ein bisschen unordentlich ist das schon, aber auch nicht willkürlich. Vor allem kommt hier so einiges zusammen. Kleine alltagsphilosophische Meditationen über den Schlaf, die Dämmerung oder Heimat, kulturhistorische Exkurse über den Bergarbeiterstreik in Großbritannien 1984 oder über den Deutschen Herbst, liebenswerte Porträts von Julien Gracq und Peter Handke, lakonisch-treffende Seitenhiebe auf Großköpfe wie Stefan Aust, emphatische Lektüreempfehlungen (Emmanuel Bove, Jürgen Becker) und zum Ende hin ein zwischen Melancholie und Wut pendelndes Lamento über das globale Schweinesystem im Allgemeinen, das bundesdeutsche im Besonderen. Es ist bemerkenswert, wie viele Themen er hier anspielt und durchdenkt und wie lange man an diesen gut 150 Seiten lesen kann, ohne dass die Lektüre ihre Leichtigkeit verlöre.

Die fehlenden Kommata im Titel sind poetologisches Kalkül. Für Roland Barthes ist der Zwischenraum der ureigentliche Ort des Schriftstellers. Und Schimmang stimmt ihm da zu. Er sucht schon von klein auf nach den Lücken und Verstecken in dieser Welt und sehnt sich nach den marginalisierten, exterritorialen Plätzen. Denn hier tut sich ihm zumindest zeitweilig ein herrschaftsfreier Raum auf. Und das ist bei diesem erklärten „Linksradikalen“ notwendig einer außerhalb des kapitalistischen Einflussbereichs. „Das Niemandsland ist kein Sperrgebiet“, schreibt er, „sondern zeichnet sich schon lexikalisch dadurch aus, dass es niemandem gehört und allen offensteht.“

Dieser Fluchtimpuls, den schon der kleine Jochen Schimmang spürt, wenn er sich in einem dunklen Tunnel unter den Schienen versteckt oder mit dem Dreirad hinaus in die Welt strampelt, um dann doch vom Großvater wieder eingefangen zu werden, resultiert nicht zuletzt, so deutet es der große Jochen Schimmang, aus der nicht zu tilgenden deutschen Schuld. „Der braune Nachhauch des Tausendjährigens Reiches war in meinen frühen Lebensjahren wirklich zu spüren, und sehr früh schon begriff ich instinktiv, dass es dieses Land eigentlich gar nicht mehr geben durfte und dass es nur von Gnaden anderer existierte.“

Die ewige deutsche Misere

Mit den Jahren und Erkenntnisschocks – als Zwölfjähriger muss er mit seiner Klasse eine ihn traumatisierende Dokumentation über die systematische Judenvernichtung des NS-Staats ansehen – entwickelt er eine gewisse „Paranoia“. Er weiß selbst, dass sein Misstrauen gegenüber dem deutschen Volk, und das schließt die eigene Person selbstverständlich mit ein, fast schon pathologische Züge trägt. Und man muss dann auch nicht alle seine Schlussfolgerungen teilen. Seine Glücksfantasie eines völlig entmündigten Deutschlands etwa geht vielleicht doch am eigentlichen Problem vorbei. Ist es nicht viel fataler, dass sich der zivilisatorische Kollaps, wenn auch nicht in dieser systematischen und industriellen Qualität, immer wieder ereignen kann?

Dennoch hegt man Sympathie für seine Hypersensibilität und seinen Argwohn. Vor allem dass er der alten, kleinen, demütigen Bonner Republik, die noch ohne hegemoniale Ansprüche auskommen musste und ohne Säbelrasseln sowieso, mehr als eine Träne nachweint, liest man gern – angesichts der vielen Fans Großdeutschlands, die sich gar nicht genug an der Machtfülle ergötzen können.

Insofern ist dieses kleine große Buch auch eins über die ewige deutsche Misere. Und eins, dass sich gegen das Pompöse, Autoritäre, Kraftstrotzende, Selbstbewusste sträubt und diesen großen Formaten beharrlich das bescheidene, defensive Glück in der Lücke entgegenhält.

FRANK SCHÄFER

Jochen Schimmang: „Grenzen Ränder Niemandsländer“. Edition Nautilus, Hamburg 2014, 156 Seiten,

19,90 Euro.