Schadet das Turbo-Abi den Kindern?
JA

SCHULANFANG Wenn in diesen Tagen der Unterricht beginnt, ist Rheinland-Pfalz das letzte Bundesland, das das Abi nach zwölf Jahren noch nicht eingeführt hat

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Heinz-Peter Meidinger, 56, ist der Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbands

Durch das Turbo-Abitur hat sich die zeitliche Lücke zwischen Abitur und Studienbeginn verlängert, die Möglichkeiten für ein Auslandsjahr während der Schulzeit wurden eingeschränkt, und das Niveau in den Kernfächern ist gefährdet, was nicht zuletzt an der im internationalen Vergleich extrem niedrigen Unterrichtsgesamtstundenzahl in Deutschland liegt. Gleichzeitig aber hat das ursprünglich in Deutschland traditionell starke Engagement von Jugendlichen in Vereinen und Jugendorganisationen abgenommen. Ich bin für Verlässlichkeit in der Bildungspolitik, also nicht für eine Rolle rückwärts. Wir müssen aber vieles am G 8 verbessern, wenn dieses richtig funktionieren und den Kindern nicht schaden soll. Ich bin für Nachbesserungen: den flächendeckenden Ausbau der Gymnasien als neu rhythmisierte Ganztagsschulen, die Senkung der Klassenstärken und mehr Lehrpersonal für eine echte individuelle Förderung!

Mike Nagler, 32, ist Sprecher für Bildungspolitik beim Koordinierungskreis von Attac

So, wie das Turbo-Abitur umgesetzt wird, entsteht ein hoher Druck auf Schüler, Lehrer und Eltern. Die Schulbildung verliert an Qualität, da meist versucht wird, den gleichen Umfang an Lehrinhalten nun in acht Jahre zu pressen. Der Unterricht reicht oft bis tief in den Nachmittag hinein, und es fehlen Freiräume im Tagesablauf, die für eine altersgerechte Entwicklung wichtig sind. Für Freizeit, soziales Engagement, Sport oder Musik bleibt wenig Zeit. Was zählt, ist Leistung und immer mehr stupides Auswendiglernen. Fürs Hinterfragen bleibt kein Platz. Das sind Folgen der Ökonomisierung des Bildungswesens, und dagegen muss etwas getan werden. Das Turbo-Abitur bedeutet auch eine Verschärfung der sozialen Selektion an den Schulen. Hier ist Deutschland im europaweiten Vergleich ohnehin Schlusslicht. Je kürzer die Schulzeit, desto schwieriger ist es für die Schüler, den Abschluss zu schaffen oder nach der Realschule noch auf das Gymnasium zu wechseln. Anstatt auf Wettbewerb und bildungspolitische Kleinstaaterei müssen wir auf Kooperation setzen. Die politisch Verantwortlichen täten gut daran, auf Schüler-, Lehrer- und Elternverbände zu hören, anstatt sich von abhängigen Institutionen wie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft oder der Bertelsmann-Stiftung beraten zu lassen. Bildung braucht Freiräume und Zeit, keine von der Wirtschaft bezahlten Technokraten.

Ulrike Köllner, 49, ist Anwältin und Vorsitzende des Vereins Gymnasialeltern Bayern

Das Turbo-Abi macht unsere Kinder zu Lernrobotern – sie schaufeln den Stoff in sich hinein und spucken ihn für Noten wieder aus. Im neunjährigen Gymnasium konnten die Schüler neben dem Lernen noch Hobbys pflegen, die sie interessierten und die ihnen Spaß machten. Jetzt ist die Mehrzahl unserer Turbo-GymnasiastInnen reduziert auf den oft lebensfernen und zusammenhanglosen Schulstoff, der in kleinen, 45-minütigen Hackstückchen verabreicht wird – in acht, manchmal zehn Fächern täglich! In der Schule ist weder genug Zeit für ein eigenes Erschließen des Stoffes noch für das Üben oder Wiederholen. Das muss zu Hause erledigt werden. Abends. Am Wochenende. In den Ferien. Am Ende des achtjährigen Gymnasiums sind unsere Kinder so lernmüde, dass sich viele ein Jahr Auszeit nehmen, ehe sie studieren. Und dafür rauben wir unseren Kindern ihre freie Zeit und stürzen die Familien in quälende, aufreibende Streitereien um die Schule? Wir brauchen kein Turbo-Abi in Form einer zusammengepressten Schulzeit. Wir müssen Fächer streichen und die Lehrpläne auf ein Mindestmaß reduzieren. Notwendig ist das eigenständige Lernen in Projekten, in denen unsere Kinder die Kompetenzen entwickeln, die sie für die Zukunft brauchen: Teamfähigkeit und soziale Verantwortung statt Ellbogenmentalität, Kreativität und Erschließen von Zusammenhängen statt Fachidiotie, Lernen aus Interesse statt Lernen für die nächste Note.

Nein

Bernd Althusmann, 44, CDU, ist seit April 2010 Kultusminister von Niedersachsen

Entgegen vielen irrtümlichen Annahmen ist es keinesfalls so, dass der gleiche Lernstoff der G9-Schulzeit in einem Jahr weniger durchgenommen wird. Die neuen Curricula sind auf die verkürzte Schulzeit ausgerichtet und entfrachtet worden. Die geringere Zahl der Schuljahre hat nichts mit der Qualität des Abiturs zu tun. In Niedersachsen haben wir das G8 im letzten Schuljahr erfolgreich eingeführt und sind hochzufrieden. Die Leistungen der G8- und G9-Schüler unterscheiden sich kaum. Unter den drei besten Abiturienten in Niedersachsen ist einer aus dem G8-Jahrgang. Kürzere Schulzeiten und kürzere Studienzeiten greifen zudem ineinander. Das sehen andere Länder ähnlich. Auch Finnland vergibt das Reifezeugnis nach zwölf Jahren. In Europa ist die allgemeine Hochschulreife oder ein vergleichbarer Schulabschluss nach zwölf Jahren die Regel, die Schüler in 20 von 27 Ländern machen so das Abitur. Insofern ist G8 ein richtiger Schritt, der keinem schadet. Unsere Schülerinnen und Schüler gewinnen ein Jahr!

Julia Saalmann, 29, ist Referentin bei der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft

Eine Verkürzung der Zeit bis zum Abitur ist mit Blick auf die Leistungsfähigkeit der Schüler und die internationale Vergleichbarkeit des Abschlusses grundsätzlich richtig. Zwölf Jahre Schule bieten den Schülerinnen und Schülern viel Potenzial, denn sie gewinnen Zeit. Zeit, die für die frühere Aufnahme eines Studiums oder einer Ausbildung genutzt werden kann. Oder für ein freiwilliges soziales Jahr, Berufspraktika und einen längeren Auslandsaufenthalt. Zu diskutieren bleibt die Umsetzung. Wer von Viertel nach sieben bis 17 Uhr Unterricht hat, kann nicht vernünftig lernen. Den gleichen Lernstoff in zwölf Jahre zu pressen ist keine effiziente Lösung. Hier leiden die Qualität der Lehre und die des Lernens. Die Stundenpläne müssen entzerrt, die Lehrpläne angepasst und das Zeitmanagement in der Schule überprüft werden. Auch gelegentlicher Unterricht am Sonnabend sollte kein Tabu bleiben.

Claudia Radelow, 28, aus Niederwiesa, kommentierte auf der taz-Facebook-Seite

Wo gibt’s seit eh und je das Abi nach zwölf Jahren? In Sachsen. Und wer wird meist Sieger bei Pisa? Auch Sachsen. Ich will hier nicht die Neueinführung des Turbo-Abis in Schutz nehmen, denn da mag einiges schiefgelaufen sein – aber eine prinzipielle Verteufelung kann ich nicht nachvollziehen. Ich bin mit meinem sächsischen Abi bisher sehr gut durch Studium und Arbeitsleben gekommen. Ich finde es auch nicht schlecht, dass wir in der Oberstufe nicht einfach alle Fächer abwählen konnten, und ich habe mich auch nicht total gestresst gefühlt. Ein bisschen hat’s mich aber doch amüsiert, dass Freunde aus Bremen und Berlin das Fach „Darstellendes Spiel“ belegen konnten. Das hat bei uns tatsächlich gefehlt.

Ralf Treptow, 51, ist Sprecher der Vereinigung der Oberstudiendirektoren Berlins

Berlin bietet viele Möglichkeiten, das Abitur zu machen: unter anderem in drei Jahren an OSZ und Sekundarschulen oder in zwei Jahren am Gymnasium. Es kann also jeder nach seiner Fasson glücklich werden. Die Berliner Gymnasien haben 2006 begonnen, die Wochenstundentafel zu erweitern, um das eingesparte Schuljahr auszugleichen. In der Mittelstufe haben die Schüler 33 bis 34 Pflichtwochenstunden – im europäischen Vergleich ist das eher wenig. In der Oberstufe kann man mit insgesamt 66 Wochenstunden das Abitur erreichen. Das ist im Vergleich zu einer Ausbildung auch nicht sehr viel. Es ist zu schaffen, und es bleibt genug Zeit für Aktivitäten jenseits des Unterrichts. Die Schüler an meinem Gymnasium leiden keinesfalls – sie sind leistungsbereit und motiviert.