Chillig

LITERATURBETRIEB Wie schön ist es doch, sich mit den Kollegen am Ende des Sommers zu betrinken: das Sommerfest im LCB

Wir sitzen im Gras, alles ist sehr entspannt. Die Haare von Jan-Peter Bremer sind noch wuseliger als früher

Es ist komisch, mit der S-Bahn nach Wannsee zum Sommerfest des Literarischen Colloqiums zu fahren, weil man das schon oft gemacht hat und weil man das Gefühl hat, das Sommerfest des LCB markiere das Ende des Sommers, und weil man in diesem Sommer wieder viel zu wenig Sommersachen gemacht hat. Das Gefühl, dass der Sommer Ende August gleich zu Ende ist, kommt aus der Kindheit. Ende August sind die großen Ferien vorbei. Der Rest ist nur noch Zugabe. Melancholisch steht man in der voll besetzten S-Bahn und wundert sich über einen proper aussehenden, vielleicht 17-jährigen Jungen, der ein T-Shirt mit der Aufschrift „EAT SHIT AND DIE“ trägt, sitzt noch ein paar Minuten am Gustav-Hartmann-Platz, um noch mal kurz über Wahlplakate und die unerhörterweise immer weiter vergehende Zeit nachzudenken, und betritt dann das Festgelände.

Das Empfangskomitee vom Klett-Cotta- und vom angeschlossenen Tropen-Verlag ist sehr nett. Am Rande tollen Tolkienfiguren herum. Pfeife rauchende Hobbits, Elben mit Pfeil und Bogen usw. Im Innern des Hauses gibt es einen „Fantasyraum“, in dem Christian von Aster ab und zu kurz was vorliest. Auf einem Tisch liegt die „Tolkien-Times,“ in der von dem Buch „Sigurd und Gudrun“ berichtet wird, das der Herausgeber Christopher Tolkien in den Tiefen des väterlichen Archivs aufspürte und von den Taten der Wölsungen und Niflungen erzählt. Gut gelaunt schlendert man mit der „Sigurd und Gudrun“-Tasche übers Gelände und stellt sich vor, die „Sigurd und Gudrun“-Tasche sei eine Milchkanne.

Viele Leute aus dem literarischen Leben sind da. Autoren, Verleger, Vertreter, Journalisten und Agenten. Brigitte Kronauer, David Wagner, Harriet Köhler, Axel Haase und all die anderen. Einige wie Balthasar kennt man nur vom Vornamen, andere, wie Katharina Teutsch, kannte man zuvor nur als Text. Weil die Literaturagentin A. grad von einer ähnlichen Sommer-ist-zu-Ende-Melancholie wie ich überfallen worden ist, will sie gleich gehen.

Wir sitzen im Gras, alles ist sehr entspannt. Die Haare von Jan-Peter Bremer sind noch wuseliger und voluminöser als früher schon. Er trägt eine schöne Sonnenbrille. Ich stelle mir vor, dass er sie sich mit dem Geld des Alfred-Döblin-Preises gekauft hat, und muss lachen, auch weil ich von Sonnenbrillen nicht viel verstehe.

Kollege B. erzählt, er habe sich in diesem Jahr einen Fußballverein ausgesucht, den er unterstützen wolle, um so mehr Spaß an der Fußballbundesliga zu haben. Richtig ernst scheint er es mit seinem Fantum jedoch nicht zu meinen. Er weiß jedenfalls nicht, wie sein Verein gespielt hat, obgleich es schon sechs ist.

Als Fachleute suchen wir nach einem Wort, das die schöne Stimmung beschreibt. „Chillig“ scheint am besten zu passen. Man chillt so am Rande der Rotunde am Wasser, stellt sich kurz vor, man sei in Italien oder Marseille, weil nebenan ja auch ein Jachthafen ist, da hinten geht die Sonne unter, man versucht, sein Gesicht in die Sonne zu halten; entspannt liest Jörg-Uwe Albig grad was aus seinem chilligen Zukunftsroman „Berlin Palace“, der in 20 Jahren in einem Viertel deutscher Habenichtse in China spielt und interessant zu sein scheint. Später gibt’s u. a. Blumengedichte von Gottfried Benn.

Über den See fliegt das schöne Lied „I never promised you a rose garden“ von einer anderen Party herüber, und oben beim Haus spricht Holm Friebe mit Douglas Coupland über dessen Marshall-McLuhan-Biografie und über sein grad auf Deutsch erschienenes Buch „JPod“, das von „Geeks“ genannten „Nerds“ erzählt, die an der Entwicklung eines Playstationspiels arbeiten. Das Buch scheint sehr gut zu sein, hat aber auch was Short-Time-Nostalgisches. Die Medienrevolution via Internet hat ja vor allem in den vergangenen fünf Jahren stattgefunden. Die beiden ergänzen sich prima.

Nun ist es schon später. Wie schön ist es doch, sich mit den Kollegen am Ende des Sommers zu betrinken. Bei den meisten ist die Lebenshalbzeit wohl schon vorüber, entscheidende Treffer fallen aber oft erst in der 75. Minute, sagt Thomas, dann kommt Bernd Cailloux des Wegs. Er trägt einen großen Verband um die Hand. Vorhin noch beim Fußballspielen hatte ihn jemand angeschossen. Ich freue mich sehr, dass er noch Fußball spielt. Bald kommt ein neuer Roman, erzählt er. DETLEF KUHLBRODT