TAZ-ADVENTSKALENDER: EBELINGSTRASSE 16
: Wo die Eisblumen blühten

16. DEZEMBER Jedes Haus hat eine Nummer. Doch was dahintersteckt, wissen nur wenige. Zum Glück gibt es Adventskalender: Da darf man täglich eine nummerierte Tür öffnen – und sich überraschen lassen

Meine letzten Eisblumen hab ich vor langer Zeit gesehen. Es war im Winter 1998/99 in meiner ersten Wohnung in Friedrichshain. In der Ebelingstraße 16 lebte ich sechs Jahre lang im Hinterhaus, unterm Dach, mit Außenklo.

Ich hatte ein sogenanntes Berliner Zimmer, das sich schmal und lang am Seitenflügel der alten Mietskaserne entlangstreckte. Das Fenster befand sich am kurzen Ende, 90 Prozent des Zimmers lagen im Dunkeln. In der riesigen Küche stand ein moderner Gasherd und in der Ecke ein Ofen aus der Gründerzeit: eine Mixtur aus Kachelofen und gusseisernem Kochherd. Klingt romantisch. War es irgendwie auch. Aber nur im Sommer.

In kalten Wintern hatte ich dafür die wunderschönsten Eisblumen an den Fenstern. Während sie immer schöner aufblühten, mummelte ich mich immer mehr ein. Es war so kalt, dass ich es nur in unmittelbarer Nähe des Kachelofens im Wohnzimmer aushalten konnte. Am Schreibtisch arbeiten ging wochenlang nicht – Laptops waren noch nicht erfunden. In meinem letzten Winter explodierte der Warmwasserboiler in der Küche. Das Wasser war eingefroren und sprengte das kleine Ding einfach weg. Gott sei Dank war ich da nicht zu Hause. Wie ich mir behalf, als das Außenklo einmal drei Wochen lang zugefroren war, erspare ich uns lieber.

Okay, dafür bot das Haus viel Potenzial für unangepasstes Wohnen und Abenteuerlichkeiten. An der alten Mietskaserne war weder zu DDR-Zeiten noch in den ersten Jahren nach der Wende etwas gemacht worden. Die Erbengemeinschaft konnte sich ewig nicht einigen, was mit dem Gebäude passieren sollte. Also passierte nichts. Der ganze Seitenflügel war baupolizeilich gesperrt. Im Keller brannte nie Licht, das Kohlenholen mit Taschenlampe in dem verwinkelten Gewölbe war gruselig. Im Dach hausten Fledermäuse, die öfter den Weg durchs Treppenhaus nahmen. Am liebsten dann, wenn gerade mal wieder das Flurlicht ausgefallen war. Dafür war die Nachbarschaft umso netter. Mein unmittelbarer Nachbar war ein bibeltreuer Baptist mit erstaunlich gut sortierter Bar. Er wollte mir nie glauben, dass ich keinen Glauben habe, und verkaufte mir nach feucht-fröhlichen Gelagen meinen Nichtglauben als handfesten Glauben. Das glaubte ich nicht.

Und klar, bei uns konnte man wilde Partys feiern. Irre laut Musik hören. Hat keinen gestört. Im Hinterhaus wohnten lauter junge Leute. Die Miete war mickrig. Und wurde mit den Jahren geringer: Weil das Haus immer mehr verfiel, minderten wir alle von Jahr zu Jahr die Miete. Bis wir die Zahlung ganz einstellten. Nicht mal das juckte den Verwalter mehr. Auch nicht, als einer nach dem anderen auszog. Das Haus war zu einer Art rechtsfreiem Raum geworden, den sich die Natur langsam zurückzuerobern versuchte. Ein Geisterhaus. Zuletzt wohnten nur noch mein gottesfürchtiger Nachbar und ich im Hinterhaus. Später wurde das Haus saniert. Es sieht jetzt aus wie alle anderen durchgestylten Häuser dieser Stadt. Beliebig. Unsere Geschichten verschwanden hinter neuem Putz, Dämmmaterial und Farbe. Eisblumen gibt’s hier auch längst keine mehr. ANDREAS HERGETH