Harte Kost aus dem Hinterhofland

DOKU Heimat kann ein Ort sein, aber auch Geschichte. Volker Koepp hat auf der Strecke „Berlin–Stettin“ (23.30 Uhr, ARD) beides gefunden

Ein stilles Nachwendeporträt einer Region, in der die Wende mehr noch als Neubeginn Verlust brachte

VON UWE RADA

Gleich zu Beginn steckt Volker Koepp den Raum seiner filmischen Autobiografie ab. 1945 war er mit seiner Mutter und drei Geschwistern von Stettin nach Neubrandenburg geflüchtet. Dort lebt noch eine Bekannte – und Koepp lässt sie vor der Kamera von der Vergewaltigung seiner Mutter berichten: „Es hat die arme Frau Koepp in dieser Nacht einige Male erwischt.“

Anfang der fünfziger Jahre wird Volker Koepp in Berlin-Karlshorst eingeschult – und erinnert sich im Gespräch mit einer Schulkameradin an die Niederschlagung des Volksaufstands am 17. Juni 1953. „Wir haben da gesehen, wie einer erschossen wurde.“ Leichte Kost ist es nicht, die der Dokumentarfilmer Volker Koepp in seinem jüngsten Dokumentarfilm „Berlin–Stettin“ dem Publikum zumutet. Doch leicht ist auch das Leben nicht in dieser Hinterhoflandschaft zwischen Ostsee und Berlin – nicht am Kriegsende, nicht in der DDR, nicht in der Bundesrepublik mit ihren schrumpfenden Landschaften.

Mit „Berlin–Stettin“ kehrt Koepp, bekannt geworden mit Filmen wie „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ oder „Holunderblüte“, an die Orte zurück, wo er in den Siebzigern als Dokumentarfilmer begonnen hat. Arbeiter in den Ziegeleien von Zehdenick hat er porträtiert und Textilarbeiterinnen in Wittstock. Indem er die Protagonisten von einst mit ihren Filmauftritten konfrontiert, schafft Koepp ein stilles Nachwendeporträt einer Region, in der die Wende mehr noch als Neubeginn Verlust brachte.

Für Fritzi Haberlandt dagegen ist das alte Haus in der Uckermark, wo Stettin schon näher liegt als Berlin, ein Volltreffer. Schon jetzt sei sie öfter hier als in Kreuzberg, sagt die Schauspielerin, die 1975 in Köpenick geboren wurde. Spannend findet sie vor allem die Dorfgeschichte. „Zu doll darf man das mit dem Vergangenen nicht betreiben. Aber ich merke schon, dass das etwas ist, das mich umtreibt.“

Damit liegt Haberlandt auf einer Linie mit dem viel älteren Koepp, jenem filmischen Heimatsucher, der sich nur im Scherz einen Heimatvertriebenen nennt. Heimat kann ein Dorf sein, die Landschaft der Kindheit, der Betrieb, der irgendwann schließen musste. Doch Koepp lässt nicht locker und behauptet, dass auch Geschichte eine Heimat sein kann, und sei sie noch so sehr mit den Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts verbunden.

So wird das Geschichtenerzählen zur Therapie, und das Erinnern schafft jenen roten Faden, um den sich irgendwann die eigene Biografie spannt. Anetta Kahane, die Leiterin der Amadeu Antonio Stiftung, hat in der Uckermark 1983 eine Geschichte erlebt, die sie bis heute beschäftigt. Ein Besoffener hatte sich bei einer Dorffeier verletzt, doch der Arzt weigerte sich zu kommen. „Ein Tagelöhner?“, hatte er am Telefon gefragt und aufgelegt. Der junge Mann starb. Tagelöhner, erklärt Kahane, war der Begriff für die Vertriebenen aus dem Osten. Heute sind es Ausländer, die nicht dazugehören dürfen.

Am Ende des eindringlichen Films schafft es Koepp doch noch nach Stettin. Er porträtiert zwei Absolventen der Universität. Auch ihre Eltern hatten nach dem Krieg die Heimat verlassen müssen – und hier eine neue gefunden. Mit dieser Parallelität hätte es Koepp bewenden lassen können. Doch die Dynamik, mit der die Polen ihre Zukunft anpacken, fasziniert auch den leisen Beobachter des Stillstands. In der Schlussszene bekommt eine der Absolventinnen von ihrer Mutter mit auf den Weg: „Einerseits möchten wir, dass du Stettin nicht verlässt. Aber wenn es dich nach Warschau oder Irland zieht, dann fliegen wir zu dir – von Berlin aus.“