Hilfe zur Selbsthilfe

Fünfzehn Frauen mit Migrationshintergrund und Hartz-IV-Erfahrung arbeiten als Stadtteil-Lotsinnen in einem der ärmsten Viertel Hamburgs. Sie hören zu und schauen hin und wollen besonders die dortigen Kinder erreichen

VON UTA GENSICHEN

„Wenn es den Eltern gut geht, dann geht es auch den Kindern gut.“ Wie selbstverständlich kommt dieser Satz aus Christine Kolbes Mund. Zwar ist die 45-Jährige selbst keine Mutter, doch möchte sie in Zukunft Familien und ganz besonders Frauen helfen, die Angebote in Dulsberg, einem der ärmsten Stadtteile Hamburgs, zu nutzen.

Kolbe ist Teil eines bisher einzigartigen Projekts in der Hansestadt. Zusammen mit vierzehn anderen Frauen wurde sie über mehrere Monate zur Stadtteil-Lotsin ausgebildet. „Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es wichtig ist, bei Problemen eine Anlaufstelle zu haben“, sagt sie. Diese Anlaufstelle befindet sich seit wenigen Tagen im Herzen des Stadtteils im Hamburger Bezirk Nord, nämlich im Dulsberger Alten Teichweg.

Die Beratungsstelle des Vereins Aqtivus soll besonders Familien aus der Nachbarschaft helfen. Der Ausländeranteil in dem Viertel mit den roten Klinkerhäusern liegt bei 24 Prozent, und von den gut 17.000 Einwohnern sind 1.600 arbeitslos gemeldet. Entsprechend gelagert sind die Probleme vieler Dulsberger: Tristesse, Bildungsmangel und sprachliche Defizite.

Das Bezirksamt suchte auf einer Fachtagung im November nach einer passenden Lösung, um besonders die Kinder aus dieser Problemspirale zu befreien. Die Behörde nahm sich ein ähnliches Projekt aus Berlin zum Vorbild und schlug Aqtivus die Ausbildung der Lotsinnen vor. Der Verein ist bereits seit Jahren vertraut mit den Integrationsschwierigkeiten von Migranten. „Wir möchten, dass sich das Bewusstsein der Eltern verändert“, sagt die Geschäftsführerin, Ajisa Winter. Ihr großes Ziel ist es, dass durch die Hilfe der Lotsinnen mehr Kinder in den sechs vorhandenen Kindertagesstätten angemeldet werden. „Ich hoffe, dass am Ende des Jahres die Wartelisten in den Kitas voll sind“, sagt sie.

Das Konzept des Projektes könnte durchaus aufgehen: Zunächst einmal stammt ein Großteil der Lotsinnen selbst aus Dulsberg oder umliegenden Stadtteilen. Neben Deutsch, Türkisch und Englisch sprechen die Helferinnen denn auch Französisch, Russisch, Persisch und Spanisch. Doch nicht nur der Migrationshintergrund, den einige Frauen haben, macht die Lotsinnen nahbarer. Viel mehr noch sind es die eigenen Erfahrungen mit Hartz IV, die den Abstand zwischen Helferinnen und Hilfesuchenden kleiner machen und so eine Vertrauensbasis schaffen soll. Frauen wie Christine Kolbe wissen, wovon sie reden und haben so die Chance, tiefer in die Probleme der Familien zu blicken als so mancher Mitarbeiter des Jugendamtes. „Wir wollen in die Familien hinein, die sich abkapseln“, sagt Geschäftsführerin Ajisa Winter. Bei dem Stichwort Kevin schüttelt sie den Kopf: „Solche Leute erreichen wir nicht – aber deren Nachbarn“, sagt sie mit Blick auf den toten Jungen aus Bremen.

Das Projekt verfolgt zwei primäre Ziele: Erstens helfen die Lotsinnen Dulsberger Familien dabei, Probleme wie Suchterkrankungen, Schulden oder Sprachhürden in den Griff zu bekommen. Dabei steuern sie vor allem eine Zielgruppe an: die Kinder. Zweitens ist das Projekt aber auch als Hilfe zur Selbsthilfe gedacht. So dient die fünfmonatige Schulung über Kindererziehung, gesunde Ernährung, Medien und die Sexualentwicklung des Kindes nicht nur den betroffenen Familien, sondern auch den Lotsinnen. Einige der 25- bis 50-Jährigen sind selbst Mütter und profitieren daher ganz nebenbei von den Bildungsmodulen. Jedoch ersetzt diese Qualifizierungsphase keine professionelle pädagogische und soziale Ausbildung. „Wir haben nur eine Lotsenfunktion und sind keine Beratung“, sagt die allein erziehende Mutter Liane Doubli über die Arbeit der Frauen.

Konkret ist damit vor allem eine Vermittlerrolle zwischen den Hilfe suchenden Familien und Institutionen wie Behörden oder Vereinen gemeint. „Viele wissen gar nicht, wie viele Einrichtungen es hier gibt“, sagt Kolbe. Das zu ändern, haben sich die Lotsinnen auf die Fahnen geschrieben und sind dafür sogar zu Hausbesuchen bereit. „Man kann sich aber auch in einem Café treffen“, sagt die Projektleiterin Bodil Kaiser. Viele Frauen würden eben aus Angst vor Gerede der Nachbarn lieber einen anonymeren Weg wählen.

Bis zum Mai 2008 läuft das Projekt, das vom Europäischen Sozialfonds und der Behörde für Wirtschaft und Arbeit finanziert wird. Was aus den Ein-Euro-Jobs nach Ablauf der Frist wird, darauf weiß auch die Geschäftsführerin von Aqtivus keine Antwort. „Am liebsten würde ich sehen, dass die Frauen von der Hamburger Regierung Arbeitsverträge bekommen“, sagt sie.

Die Stadtteil-Lotsinnen sind in ihrem Büro, Alter Teichweg 139, montags bis freitags 9–15 Uhr unter ☎ 040 / 72 96 33 76 zu erreichen.