„Berlin sollte auf die Hauptschule verzichten“

Der Neuköllner SPD-Kreischef Fritz Felgentreu kritisiert sie als „Schulform der negativen Auslese“ – die überwunden werden muss

Vor Neukölln: Geboren am 1. September 1968 in Kiel. Abitur 1987 in Büsum. Ging danach für zwei Jahre zur Bundeswehr.

In Neukölln: Kam 1989 als Student der Fächer Latein, Slawistik, Psychologie und Griechisch nach Neukölln. Promovierte 1998 zum Altphilologen. Schwerpunkte: staatsnahe Dichtung und Rhetorik in der Spätantike, christliche Kabbalistik und Pansophie. Seit 2004 Vorsitzender SPD-Neukölln.

Nach Neukölln: Lebt heute mit Frau und drei Kindern in Treptow. Motto: Ducunt volentem fata, nolentem trahunt. (Den Willigen führt das Schicksal, den Widerstrebenden schleppt es mit.) TAZ

INTERVIEW UWE RADA
UND ALKE WIERTH

taz: Herr Felgentreu, wie viele Vergil-Kenner gibt es in Neukölln?

Fritz Felgentreu: Vermutlich mehr, als man denkt. Viele unserer Studenten wohnen in Neukölln. Auf 30 bis 50 könnte man vielleicht kommen.

Hätte Vergil hier nicht mehr Fans verdient? In seinem Epos „Aeneis“ beschreibt er, was der Verlust von Heimat, Diaspora und die Suche nach einer neuen Heimat bedeuten.

Tatsache ist, dass Latein sich an Neuköllner Gymnasien gerade bei Gymnasiasten mit Migrationshintergrund hoher Beliebtheit erfreut. Vor allem, weil man da ganz systematisch Deutsch lernt. Außerdem vermittelt es tatsächlich den Sinn für eine kulturelle Gemeinsamkeit des Mittelmeerraumes mit dem westeuropäischen Erbe.

Die Beschäftigung mit anderen Kulturen und Sprachen soll die interkulturelle Kompetenz befördern. Gilt das auch für vergangene Kulturen und nicht mehr gesprochene Sprachen?

Ja. Die Beschäftigung mit alten Sprachen lebt vom Vergleich der Welt der Vergangenheit und ihrer Kultur mit unserer eigenen. Das erhöht die interkulturelle Kompetenz enorm.

Was haben Sie dabei gelernt?

Dass man Menschen aus ihrer Welt heraus verstehen muss.

Sie haben die Sehitlik-Moschee am Columbiadamm als Ort für dieses Interview ausgewählt. Warum?

Die Moschee liegt in meinem Wahlkreis, und ich habe sie von Anfang an wachsen sehen. Ich finde es gut, dass die schönste Moschee Deutschlands in Neukölln steht. Es ist wichtig für das Ankommen von Menschen islamischen Glaubens in unserer Kultur, dass sie sichtbare und repräsentative Gebetsräume haben.

Neukölln ist eher wegen seines Bürgermeisters als wegen der Moschee bekannt. Wie ist das Verhältnis des Kreisvorsitzenden zum Bürgermeister? Gibt es Reibungen?

Relativ selten. Heinz Buschkowsky hat einen anderen Stil als ich, er ist volksnäher und zupackender, das bewundere ich. Politisch sind wir meistens einer Meinung.

Wir lesen Ihnen ein Buschkowsky-Zitat vor, Sie sagen „stimmt“ oder „stimmt nicht“: „Multikulti ist gescheitert.“

So, wie er es gemeint hat: Ja.

Hat Buschkowsky mit solchen Sätzen nicht zum schlechten Image Neuköllns beigetragen?

In den Achtzigerjahren, als sich in Neukölln ebenso wie in Kreuzberg die Entwicklung, mit der wir heute kämpfen, abzeichnete, war es hier eine bewusste politische Entscheidung zu sagen: Diese Probleme gibt es bei uns nicht; wir wollen unseren Bezirk nicht schlechtreden; das sollen mal die Kreuzberger machen. Buschkowsky ist der Erste gewesen, der gesagt hat: Schluss damit, wir müssen uns der Realität stellen. Wenn Neukölln besser ist als sein Ruf,ist mir das übrigens viel lieber als umgekehrt.

Er hätte auch sagen können: Neukölln ist ein Einwanderungsbezirk.

Das sagt er ja auch ständig. Er sagt aber auch: Wir haben Fehler gemacht. Neukölln ist ein Einwanderungsbezirk und hat sich politisch darauf eingestellt. Das Bezirksamt hat eine Vielzahl von Integrationsmaßnahmen durchgesetzt. Wir haben sogar im Süden Infrastruktur abgebaut und die frei gewordenen Mittel in den Norden verlagert. Das hat uns im Bezirk massive Kritik eingetragen. Buschkowsky hat aber auch gebrandmarkt, dass in den Siebziger-, Achtziger- und in weiten Teilen der Neunzigerjahre eigentlich keine Integrationspolitik stattgefunden hat. Das meinen wir, wenn wir sagen, Multikulti ist gescheitert. Das tut die ganze Neuköllner SPD, auch ich als ihr Vorsitzender.

Was ist Ihre Vision von einem Neukölln in 25 Jahren?

Meine Vision von einer integrierten Gesellschaft und damit auch von einem integrierten Neukölln ist, dass sich die Menschen, die hier zusammenleben, als Schicksalsgemeinschaft begreifen, dass sie gemeinsam Anteil haben an der Gestaltung des Gemeinwesens. Vor allem aber muss die ökonomische Integration gelingen. Das heißt, dass wir weniger Menschen haben, die von Transferleistungen abhängig sind, und mehr, die von ihrer Arbeit leben können. Das ist für mich eine ganz wichtige Voraussetzung für gelungene Integration.

Neukölln ist nicht Charlottenburg.

Das ist es nie gewesen. Aber früher hatten wir eine wesentlich geringere Arbeitslosigkeit.

Neukölln wird auch in 25 Jahren nicht Charlottenburg sein.

Muss es auch nicht. Aber wir wollen von einem Arbeitslosenbezirk wieder zu einem Arbeitnehmerbezirk werden.

Jetzt reden Sie wie Gerhard Schröder mit der Agenda 2010.

Da stehe ich auch voll dahinter. Diese Reformen waren dringend notwendig. Aber natürlich brauchen wir einen ersten Arbeitsmarkt, der mehr Leute aufnehmen kann. Und wir müssen auch diejenigen, die keine Voraussetzungen für den ersten Arbeitsmarkt mitbringen, in Arbeit bringen. Zur Not eben von staatlicher Seite. Dabei geht es nicht um Sanktionen und Zwangsmaßnahmen, sondern darum, dass Kinder und vor allem die Jungen sehen, dass ihre Eltern arbeiten, um für die Familie zu sorgen. Und nicht aufwachsen in einer Struktur, die auf Transferleistungen basiert. Das halte ich für einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung nicht nur in Neukölln.

Ihr Bürgermeister sagt auf diese Frage: Bildung, Bildung, Bildung.

Wir brauchen beides. Wir werden einen Teil der Leute, die im Moment abgekoppelt sind, nicht mehr nachqualifizieren können. Aber wenn wir die jungen Leute vorbereiten wollen, dann ist Bildung der entscheidende Hebel. Da müssen unsere Anstrengungen noch wesentlich größer werden, als sie es im Moment sind.

Zum Beispiel?

Wir müssen noch früher mit dem Ausgleich von Sprachdefiziten anfangen. Ich kann mir auch vorstellen, dass man die Schulpflicht auf das vollendete dritte Lebensjahr vorzieht, wie es in anderen Ländern der Fall ist. Ich denke außerdem, dass in Stadtteilen wie unserem sich die Hauptschule als Schulform überlebt hat. Sie ist eine Schulform der negativen Auslese geworden. Das ist weder im Interesse der Gesellschaft noch im Interesse der Kinder. Also muss man sich überlegen, wie man diese Schulform überwindet.

Und wie?

Aus meiner Sicht zunächst einmal, indem man sie mit Realschule und Gesamtschule zusammenführt.

Das ist das CDU-Konzept. Der Senat hat mit den Gemeinschaftsschulen ja ein anderes.

Die Gemeinschaftsschule wollen wir in dieser Legislaturperiode als Modell aufbauen. Aber die Hauptschule ist eine Schulform, auf die das Land relativ schnell verzichten sollte.

Wenn die Opposition einen entsprechenden Antrag ins Abgeordnetenhaus einbringen wird, wird die SPD zustimmen?

Die SPD ist gut beraten, wenn sie jetzt sehr schnell die Tatsache aufgreift, dass die CDU endlich bereit ist, in der Hauptschulfrage umzudenken. Das ist eine Grundlage, auf der wir mit einem breiten gesellschaftlichen Konsens in der Stadt einen bildungspolitischen Fortschritt erreichen können.

Zurück in die Zukunft: Wie wird Neuköllns Bürgermeister in 25 Jahren heißen? Felgentreu? Özkaraca? Al-Nadir?

Wenn ein gestandener Neuköllner oder eine Neuköllnerin mit SPD-Parteibuch diesem Bezirk vorsteht, soll es mir sehr recht sein, wenn der Name einen Migrationshintergrund widerspiegelt. Ob das nun ein türkischer, arabischer oder wie heute ein polnischer ist, ist eigentlich egal.

Wo sehen Sie sich in 25 Jahren? An der Hochschule oder in der Politik?

Da wage ich keine Prognose. Ich würde mich freuen, wenn die Leute in 25 Jahren sagen: Gut, dass Felgentreu hier ist – oder war.

Wenn man sich Ihre Vita anschaut, überrascht einen Ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundeswehrverband. Wie kommt es dazu?

Ich bin Reserveoffizier. Ich war zwei Jahre bei der Bundeswehr und bin Oberleutnant der Reserve bei der Artillerie.

Deutschland wird nicht nur am Hindukusch, sondern auch am Hermannplatz verteidigt?

Dann aber mit ganz anderen Mitteln.

Mit welchen?

Mit den Mitteln der Politik, und zwar der Integrationspolitik. Meine politisches Spezialgebiet Inneres und Recht ist ja immer nur Symptombekämpfung.

Wie leicht geht Ihnen denn das Wort deutsche Leitkultur über die Lippen?

Dem Wort kann ich nichts abgewinnen. Für mich gibt es eine Kultur der Aufklärung, die ausgeht von den Rechten des Individuums in einer freiheitlichen Gesellschaft. Die muss die Grundlage für das Zusammenleben sein. Deutsche Leitkultur ist kein Begriff, an dem ich mich orientieren kann.

Haben Sie noch nie gedacht: Scheißtürke?

Stress gibt es auch mal.

In welchen Situationen?

Zum Beispiel: Man plant etwas, wo viele Leute mit anpacken müssen, fängt ein Vierteljahr vorher an und fragt, wer mitmachen will. Da gibt es dann die, die nie Zeit haben. Es gibt drei, vier, die sagen zu, und man kann sicher sein, die stehen auf der Matte. Und dann melden sich fünf Türken, und ich weiß aus Erfahrung: Wenn ich die nicht drei Tage vorher und an dem betreffenden Morgen noch mal anrufe, dann kommen sie nicht. Wenn ich sie aber anrufe, kommen sie und bringen noch welche mit. Einen Terminkalender zu führen ist keine herausragende Eigenschaft der türkischen Genossen. Das nervt manchmal.

Gehört zur interkulturellen Kompetenz dann, dass es eben auch mal ohne Terminkalender gehen muss?

Ja, klar. Wenn ich diese Hilfe haben will, und die ist dann ja auch top, muss ich eben die richtige Art der Ansprache finden. Dann muss ich auch bereit sein, mich da zu verändern.