Die Vergangenheit ist sehr lebendig

NEKROPOLIS Der Waldfriedhof Stahnsdorf ist der zweitgrößte Friedhof in Deutschland. Hier war Platz genug für die Toten aus Berlin. Heute wird seine Ruhe nur vom Verkehr gestört. Ein Spaziergang

Einige Gruften sind offen. Es riecht nach Totenblumen. Dahinten läuft ein Fuchs

VON DETLEF KUHLBRODT

Das Wetter ist super, die Sonne scheint. Die S-Bahn ist gut gefüllt auf dem Weg zum Südwestfriedhof Stahnsdorf. Vermutlich bin ich der einzige Vergnügungsreisende im Zug. Kaum hab ich diesen Satz formuliert, bin ich schon in Teltow. Mit einem „Hallöchen!“ begrüßt mich der Tabakhändler. Sein Laden ist gut sortiert. „Camel ohne“ gibt es nur selten im Umland. Der Geschäftsmann verabschiedet mich mit einem „Und einen schönen Tag noch!“. Tabak-, Zigaretten- und Zeitungshändler sind meist ganz gute Typen.

Doch nicht jeder hier ist fröhlich. Eine Kundin im Netto-Markt, in dem ich mir Studentenfutter besorge, ist so empört über die lange Schlange, dass sie ihren Einkauf – zwei Gläser mit Schattenmorellen und zwei Heidelbeerjoghurts – auf das Band der leeren Kasse stellt und abfällige Bemerkungen murmelnd verschwindet.

Im schönen, blau gestalteten Bus 601 fahren wir am Tiergesundheitszentrum vorbei. Am Straßenrand wird die Flughafenlärmthematik mit Protestschildern thematisiert. „Je heisser die Tage, desto cooler die Preise“ wirbt ein Gebrauchtwagenhändler für seine Waren. Auf dem T-Shirt einer jungen Mitfahrerin steht: „Wat, wer bist du denn?“

Komplett überfüllt

Endlich bin ich auf dem 1909 eingerichteten Waldfriedhof, der mit 206 ha Fläche – hinter Hamburg-Ohlsdorf – der zweitgrößte Friedhof in Deutschland ist. Weil die innerstädtischen Friedhöfe Berlins in jener Zeit komplett überfüllt waren, war man vor die Tore der Stadt ausgewichen. Die Kirchengemeinden Berlins sind in unterschiedlichen Sektionen vertreten. Außerdem gibt es auch noch italienische und englische Soldatengräberfelder, die 2004 von der englischen Königin besucht worden sind. Gestaltet wurde alles von großen Architekten wie zum Beispiel Max Taut. Einige Berühmtheiten, wie zum Beispiel Elisabeth von Ardenne, das Vorbild von Fontanes Effi Briest, Engelbert Humperdinck und Heinrich Zille liegen auch hier. Bis 1961 gab es eine Friedhofsbahn, die das Gräberfeld mit der Stadt verband.

Es ist sehr schön, auf dem Friedhof spazieren zu gehen. Komisch, dass das so wenige machen. Manches ist sehr verwildert, anderes wurde in den letzten Jahren renoviert. Es ist wie im Urlaub; man geht eine Weile, hört dabei seine Schritte, macht sich Gedanken über spitzfindige Grabsteininschriften – „Er ist nicht von, sondern vor uns gegangen“ –, und wenn die Beine müde sind, setzt man sich an plätschernde Brunnen auf vermooste Steinplatten und stellt sich vor, in Gedichten von Georg Trakl zu lesen. Die Vergangenheit ist sehr lebendig und wird nur vom Straßenverkehr gestört, der auch hier zu hören ist.

Besonders schön ist die nach dem Vorbild norwegischer Stabholzkirchen gebaute Holzkirche, in der man das Gefühl intensiver Zeitverdichtung hat. Die Bibel auf der Kanzel ist bei Jesaja 42 aufgeschlagen. Die Plastiktischdecken im Warteraum sind bestimmt schon 60 Jahre alt.

Ein paar Meter weiter ein sehr berührendes Kindergrab von 2009 mit Teddys, Puppen, einem kleinen Auto, einem fröhlichen Janoschbild auf einem Stein und Windspielen in den Ästen der Bäume. Das Kind war nur ein Jahr alt geworden. „Erinnerungen sind kleine Sterne, die tröstend in das Dunkel unserer Trauer leuchten“.

Keiner käme zu Besuch

Tausend Mücken stürzen sich auf mich. Zum Glück hab ich Zigaretten dabei. Leider kann ich nicht ständig rauchen. Die Sonne scheint durch die Blätter der Bäume. Die Übergänge zwischen neu und verwittert sind fließend. Viele Gräber sieht man kaum. Einige Gruften sind offen. Da und dort riecht es nach Totenblumen. Man kommt an einem Plumpsklo vorbei. Dahinten läuft ein Fuchs. Regelmäßig gibt es hier auch Wildschweinjagden. „Die Kirchhofabteilung für Bestattungen unter Bäumen gibt bekannt.“ Vielleicht wäre es schön, hier zu liegen, aber dann würde einen ja nie jemand besuchen.

Natürlich verläuft man sich, aber auch nur ein bisschen. Und am Ende ist man wieder zu Haus. Weil die Sterberate in Berlin in den vergangenen Jahren drastisch zurückgegangen ist, werden in den kommenden Jahren 75 Friedhöfe verkleinert und elf für immer geschlossen.