Die Fühler des Putzes

AUSSTELLUNG Verlassensein in der sozialen Katastrophe und Wirklichkeitssimulation: Beate Geissler und Oliver Sann in der NGBK

Ist man dem dunklen Spiegelkabinett entkommen, wird es vermeintlich friedlich

Das Foto könnte in einem Fotoalbum kleben: ein junger Mann vor einem grauen Hintergrund, bleich, schüchtern, die braunen Augen gesenkt. Den Mund hat er leicht geöffnet. Von der Nase wandern zwei große Falten in Richtung Oberlippe und scheinen ein undeutliches Lächeln zu formen. All das wirkt friedlich, harmonisch, familiär – wäre da nicht der Kontext.

Entstanden ist das Bild des Mittzwanzigers 2001 auf einer LAN-Party, aufgenommen von Beate Geissler und Oliver Sann. Der eingefangene Moment ist der eines finalen, virtuellen Fangschusses – eine Ego-Shooter-Sequenz, die für den Betrachter unsichtbar bleibt. Steht man frontal vor der Fotografie, nimmt man automatisch die Position des Bildschirms ein. Aus dem Lächeln wird eine zynische Grimasse; bedrückend kann das wirken, vielleicht sogar verstörend.

Mit „SY-MAN, 98“ aus der 2000/2001 entstandenen Reihe „shooter“ beginnt die aus mehreren Arbeiten (2000–2011) zusammengestellte, noch bis zum 11. September dauernde Ausstellung „volatile smile – Ein uneinschätzbares Lächeln“ des Künstlerduos Geissler/Sann in der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst (NGBK) in der Oranienstraße. Entlehnt ist der Titel dem Begriff „Volatility Smile“ aus der globalen Finanzwelt. In dem Ausdruck spiegelt sich die Unberechenbarkeit der Gesamteinschätzung des Marktpreises einer Option oder eines Derivats. Dessen grafische Darstellung – beliebte Branchefloskel: „In diesem Kurs steckt viel Fantasie“ – durchaus an eine „grinsende“ Kurve erinnern kann.

Die weltweite Finanzkrise steckt den Rahmen für die auf den „shooter“ folgende, titelgebende Installation ab: 60 Flatscreen-Bildschirme sind eng nebeneinander an eine den Raum teilende Zwischenwand montiert. Die sonst vom Zahlenspiel und Kurvenchaos verflimmerten Monitore, auf die sonst Aktienanalysten und Investmentbanker stieren, bleiben schwarz.

Schreitet man die an einen Stammbaum erinnernde Reihe entlang, begegnet man kontinuierlich der eigenen Silhouette, die matt, fast ein bisschen verwässert im düsteren Glas aufscheint. Die gähnende Leere, die dahinter stumm lauert – sie mag zwar Ruhe ebenso wie Entschleunigung verheißen –, hat für den geduldigen Betrachter eine bemerkenswert soghafte, unmittelbare Fallhöhe. Nebenbei bekommt so auch das Größen-Selbst einer vom Profit getriebenen Finanzwelt eine entsprechende bildliche Dimension verpasst.

Ist man dem dunklen Spiegelkabinett entkommen, wird es wieder vermeintlich friedlich. Man trifft auf die Fotoserie „the real estate“ (2008). Auf der Wohnungssuche in Chicago – das Künstlerpaar lebt heute in den USA – ist eine Bilderfolge von Innenaufnahmen aus Immobilien entstanden, die zwangsversteigert wurden. Die individuellen Rudimente urbanen Lebens strahlen nur noch den Abgesang von Vitalität aus, ganz gleich, ob es sich dabei um eine pink unterlegte Posterwand (sinnbildlicherweise beklebt mit der millionenschweren Paris Hilton), einige versiffte Matratzen oder übrig gebliebene Autoreifen handelt. Dazwischen wuchern herrenlose Kabel und verfallene Wände, von denen vergilbter, abblätternder Putz unzählige Fühler ins leere Zimmer streckt.

Obwohl Verfall und Sterben die Raumporträts bestimmen, sind sie doch von klar ausgeleuchteter, formeller Schönheit. Jedes erhellte Fenster, jede offene Tür bricht ein stückweit den bedrückenden Gesamtmoment fehlenden Lebens auf. Dennoch bleibt der Idylle des Verlassenen der bittere Beigeschmack einer sozialen Katastrophe. Deren Echo klebt in jedem Wohnzimmer und bleibt genau da stecken, wo sonst die Fotos der Familie aus besseren Tagen gehangen haben. JAN SCHEPER

■ Geissler/Sann: „volatile smile – Ein uneinschätzbares Lächeln“, NGBK, Oranienstr., 25. 8. bis 11. 9.