Der Maler der Welle

JAPONISMUS Die Hokusai-Retro im Gropius-Bau ist atemberaubend

VON RONALD BERG

Eine riesiger, schäumender Wellenkamm droht über drei kleinen Frachtbooten zusammenzubrechen. Mit tausend Fingern greift die Gischt nach den Booten. Der Wellenstrudel beschreibt eine exakte Spirale. Die Schaumkronen bilden fraktale Muster, und der Vulkan Fuji mit seinem schneebedeckten Kegel im Hintergrund liefert in seiner Silhouette das natürliche Diagramm einer Abklingkurve. So sind in das bedrohliche Geschehen die Formen ewiger Gesetze der Natur eingeschrieben. Ob die Boote davonkommen, ist ungewiss. Der Suspense des angehaltenen Höhepunkts in einem Drama auf Leben und Tod macht einen Reiz des Bildes aus.

Es handelt sich um das wohl bekannteste japanische Kunstwerk im Westen. Den Entwurf dazu lieferte um 1831 ein Japaner namens Hokusai. Doch der Mann hatte viele Namen. Über 30 Male wechselte er ihn im Laufe seines fast 90 Jahre währenden Lebens. Mindestens so oft veränderte Hokusai auch seinen Mal- und Zeichenstil. „Die große Welle vor der Küste bei Kanagawa“ schuf Hokusai als alter Mann. Seit er fünf war, zeichnete der Junge bereits alles, war in seiner Umgebung in Edo (dem heutigen Tokio) zu sehen war. Hokusai nannte sich selbst einen „von der Malerei Besessenen“. Betrachtet man Fülle, Vielfalt und Meisterschaft seines Werkes, kann man sich Hokosais Genie kaum anders erklären.

Hokusai schuf elegante und groteske Portraits, exakte Blumen- und Tierdarstellungen, Romanillustrationen, er lieferte Karikaturen, Landschaftsbilder, zeichnete fratzenhafte Dämonen und erotische Szenen. Er hatte mit seinen Skizzenbüchern, den „Hokusai Mangas“, zu Lebzeiten so großen Erfolg, dass der Name ein ganzes Genre prägte. „Das Wesen vermitteln und das Malen lernen“, waren die 15 Bände betitelt. Hunderte von Szenen und Figuren präsentieren alles und jeden im Japan in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

440 Werke zeigt die großen Retrospektive im Martin-Gropius-Bau – Holzschnitte, Malereien, Bücher. Ein Politikum, das 150-jährige Jubiläum der Unterzeichnung des Freundschafts- und Handelsvertrages zwischen Preußen und Japan, machte die Ausstellung möglich. So viel Hokusai wird man in Europa wohl kaum noch einmal sehen. Fast alle Werke hat Kurator Nagata Seiji als Leihgaben aus seiner japanischen Heimat besorgt. Das hier gezeigte Lebenswerk Hokusais ist schlicht atemberaubend. Die Ausstellung ist chronologisch sortiert und informativ aufbereitet. Wand- und Bildtexte fallen für ein westliches Publikum naturgemäß etwas länger aus. Wer alles ausführlich studieren will, sollte Zeit und Muße mitbringen – und eine Lupe.

Obwohl er zuerst Holzschneider war, entschloss sich Hokusai mit 18 Jahren Maler werden, um selbst die Vorlagen für die damals in Blüte stehende Technik des Farbholzschnittes aufs Papier zu pinseln. Mit bis zu 70 Farbplatten wurde gedruckt. Die bunten Holzschnittblätter waren im Japan des 18. Und 19. Jahrhunderts sehr beliebt. Sie hießen ukiyo-e, Bilder der vergänglichen Welt. Sie zeigen die Alltagswelt eines Japans, das in selbstgewählter Abschottung lebte und gedieh: Wiedergegeben werden Szenen aus dem volkstümlichen Kabuki-Theater und dessen Schauspieler, Bildnisse von Sumo-Ringern, schöne Kurtisanen, pittoreske Landschaften oder der Alltag in der Millionenstadt Edo.

Ukiyo-e, in großen Auflagen für ein bürgerliches Publikum hergestellt, war Massenware ebenso wie die vielen mit Holzschnitten illustrierten Romane. Die Holzschnitte wurden nach erzwungener Öffnung Japans für den Welthandel durch die Amerikaner im Jahr 1854 als Verpackungspapier für Porzellan benutzt. Auf diese Weise soll Hokusai in Paris von den Künstlern entdeckt worden sein. Monet, Manet, Degas, Gaugin, Toulouse-Lautrec, Whistler, van Gogh und viele andere erlagen dem Neuen und Anderen der ukiyo-e. Ihre Frische wies ihnen einen Ausweg aus dem staubigen Akademismus der eigenen Gegenwart. Die Folgen für die europäische Kunstgeschichte sind bekannt: der Japonismus wurde Mode, und was man Impressionismus und Art nouveau nennt, ist weitgehend der Übernahme japanischer Einflüsse zuzuschreiben: die flächige Farbigkeit, die schwarze Kontur, die breit- oder hochgestreckten Formate, der Kontrast zwischen leerem und erfülltem Raum, die asymmetrischen Kompositionen, all das fand sich bereits bei Hokusai. Zuhause galt sein Genre den Gelehrten noch lange als vulgär.

■ Mi. bis Mo. 10–20 Uhr