TAZ-ADVENTSKALENDER: CRELLESTRASSE 19
: Knietief im Sand

19. DEZEMBER Jedes Haus hat eine Nummer. Doch was dahintersteckt, wissen nur wenige. Zum Glück gibt es Adventskalender: Da darf man täglich eine nummerierte Tür öffnen – und sich überraschen lassen

„Strandgut“ steht über dem Eingang zum Ladenlokal, auf dem Fensterbrett liegen Muscheln. Drinnen begrüßt Ute Strub jeden Besucher schon an der Tür. Fester Händedruck, man tauscht die Straßenschuhe gegen warme Puschen. Im Raum werkelt eine Handvoll Kleinkinder im Beisein ihrer Eltern konzentriert an Küchengerätschaften: Sand wird durch Kaffeemühlen gedreht, rieselt durch Zuckerzangen, wird mit Rasierpinseln durcheinandergewirbelt und mit Nudelhölzern plattgewalzt. Erstaunliche Ruhe herrscht im Zimmer, dessen Wände nostalgische Schwarz-Weiß-Fotografien zieren. „Das sind Originalfotos aus dem Emmi-Pikler-Institut“, erklärt die zierliche Weißhaarige, die selbst Pikler-Fortbildungen für Erzieherinnen gibt und berühmte ungarische Kleinkindpädagogin noch selbst kennengelernt hat.

Das Strandgut, vorn ein Raum mit Sand, hinten ein Haufen Stroh und ein Balancebrett, ist Strubs eigene Idee. Fein- und Grobmotorik trainieren, ganz ohne Plastik und vermeintlich didaktisches Kinderspielzeug. Dafür mit liebevoll ausgewählten Utensilien und Naturmaterialien, die zum Selbstentdecken einladen. „Die Kinder kommen hier rein und wissen sofort, was zu tun ist“, berichtet Strub. Gelangweilt habe sich hier noch keiner. Im Gegenteil: Kinder wie Eltern seien dankbar für das Ambiente ohne Rosa-und Hellblau-Terror und pädagogischen Zwang. Dass es unter den Kindern so selten Streit gibt, liegt auch an der Einrichtung, davon ist die 81-Jährige überzeugt: „Schönheit harmonisiert, das wusste schon Schiller“.

Geduldig versucht ein kleiner Junge, eine bewegliche Holzente über ein schräges Brett laufen zu lassen. Seine Mutter schaut zu, wie die Figur wieder und wieder umfällt, greift aber nicht ein. Das ist nach Ute Strubs Geschmack. Ebenso der unsachgemäße Gebrauch von Erwachsenengegenständen: Ein kleines Mädchen hat sich in den großen Sandtisch gesetzt und bohrt mit dem Ende eines kleinen Trichters in der Nase. Strub lacht darüber aus vollem Hals. Währenddessen hat der Junge endlich den Bogen raus, die Ente watschelt störungsfrei übers Brett. Die Mutter applaudiert, der Junge strahlt. „Jetzt hat er‘s“, kommentiert Strub, die im Stillen das Geschehen verfolgt hat. Man könne Kindern so einiges zutrauen, sagt sie. Leider hätten viele Eltern das inzwischen verlernt.

Im hinteren Raum hängen deshalb in Erwachsenenhöhe Bilder, die ein Baby beim Herabsteigen einer Treppe zeigen: auf allen Vieren. Ein pädagogischer Wink, den Kleinen nicht beim Balancieren über das Holzbrett zu helfen. „Darauf sind schon 65 Jahre lang Kinder runtergerutscht“, sagt Strub voller Stolz. Das Brett hat sie von Elfriede Hengstenberg geerbt, einer Freundin von Emmi Pikler, bei der sie als Mädchen selbst Gymnastikunterricht hatte.

Eigentlich, erzählt Strub, habe sie das „Strandgut“ vor viereinhalb Jahren als Spielraum für Erwachsene eröffnet. Doch stattdessen kamen die Hortkinder aus dem Hinterhof. Dann die Eltern mit Kleinkindern. Sie hat sich arrangiert, empfängt Kita-Gruppen, einen dritten Raum baut sie gerade zum Säuglingszimmer um. Kostendeckend arbeitet der Laden nicht, doch das sei es ihr wert, sagt die überzeugte Verfechterin einer ungestörten Kindheit. Ihr Traum: dass in jedem Stadtbezirk so ein Laden existiert. NINA APIN