Wem der Baum zu teuer war

BRAUCHTUM Das Museum für Hamburgische Geschichte zeigt Jahreszeittypisches. Manche der da zu sehenden friesischen Weihnachtsgestelle sind hundert Jahre alt – andere nur ein paar Wochen

Irgendwann kamen christliche Missionare, schafften aber nicht, alles Vorhandene auszuradieren

VON PETRA SCHELLEN

Eigentlich sind wir alle Heiden: Wir haben den Weihnachtsbaum, ein vorchristliches Frühlings-, Hoffnungs- und Immergrün-Symbol. Die Nordfriesen haben traditionell einen Kenkenbuum zuhause – beziehungsweise einen Jöölboom, je nachdem, in welche Ecke man kommt.

Dazu gibt es den „Föhrer Bogen“: ein kleines Holzgestell aus kreuzweise verbundenen Stäben, gekrönt durch einen Halbkreis zum Beispiel aus Weidenrute, die den Lauf der Sonne oder anderes Kosmisch-Archaisches symbolisiert. Ein bisschen sieht das Ganze aus wie ein Hufeisen, und das bringt im Zweifel Glück.

Daran gehängt werden neben Nuss und Mandelkern auch Tiere aus Salzteig oder Lebkuchen: Schweine, Schafe, Vögel. Das ist kein Zufall: Solche Tiere – aber echte, keine nachgemachten – haben Menschen in vorchristlicher Zeit geopfert, auf dass der Winter glimpflich verlaufen und bald enden möge.

Irgendwann kamen christliche Missionare, schafften aber nicht, alles Vorhandene auszuradieren, und begnügten sich mit Kompromissen. So steht unterm Baum jetzt – in katholischen Gegenden – die Krippe, im Norden gibt es immer wieder die sogenannte „Hamburger Pyramide“, ein Holzgestell mit Tannengrün drumrum, um dessen Fuß ein Zaun gezogen war.

Adam und Eva und der Baum

Das Museum für Hamburgische Geschichte hat derzeit eine Balustrade im ersten Stock mit einer Auswahl friesischer Weihnachtsgestelle geschmückt. Einige Nachbauten aus dem 18. Jahrhundert, entliehen aus dem Altonaer Museum, finden sich wohlverwahrt in einer Vitrine. Andere Exponate hat der pensionierte Physiker Wolfgang Wiethaup selbst gebaut, teils vor 30 Jahren, teils erst vor ein paar Wochen.

Einen halben Meter hoch nur sind diese „Gestelle“, die Bauernstuben waren früher niedrig, da passte keine Königstanne hinein. Wohl aber der adrette „Hiddenseer Bügelbaum“, ein Gewebe aus fast karnevalistisch bunt geflochtenen Papiergirlanden in rot, gelb, blau. Vorm Hiddenseer Rathaus steht noch heute so einer in groß. Erfunden haben den Bügelbaum vermutlich Seeleute, die die Form aus Seilen flochten.

Oft fanden sich am Fuß der friesischen Weihnachtsgestelle Adam und Eva samt Baum, zu dem die darüber hängenden Äpfel in süffisanter Beziehung standen. Das verweist auf die auch in manchem Weihnachtslied besungene „Wurzel Jesse“: Adam und Eva als Ur-Ahnen Jesu. Manchmal, sagt der Ehrenamtler Wiethaup, hänge sogar irgendwo ein Kreuz mit im Gestell – wie die Geschichte des Kindes endet, an dessen Geburt zu Weihnachten erinnert wird, ist ja bekannt.

Selbst gebauter Baum-Ersatz

Auch wenn im Hamburger Michel eine steht: Krippen sind im deutschen Norden selten. Und der klassische Weihnachtsbaum, den Wohlhabende im 19. Jahrhundert für sich entdeckten, war für den Großteil der Bevölkerung noch lange Zeit zu teuer. Ganz abgesehen davon, dass Norddeutschland eher karg bewaldet ist. Also hat man sich die erwähnten Ersatzgestelle gebastelt, mit Buchsbaum oder Efeu umwunden und ins Fenster gestellt, die schöne Seite nach innen.

Eine Kerze für jeden Tag

Und dann gibt es natürlich solche wie Wolfgang Wiethaup, der jedes Jahr eine neue Weihnachtsdekoration für seine Familie bastelt. Was vielleicht auch daran liegt, dass er nach Hamburg zugezogen ist – also besonders empfänglich für die Traditionen seiner Wahlheimat. Aber auch so jemand kann zum Trendsetter werden: „Meine selbst gemachten Föhrer Bögen haben Besuchern aus anderen Gegenden so gut gefallen, dass wir inzwischen etliche davon verschenkt haben“, erzählt er. „Die sind jetzt auf ganz Deutschland verstreut.“

Dieses Jahr hat er für zuhause erstmals einen hängenden Adventskranz gebastelt, weniger wuchtig als der in der Eingangshalle des Hamburger Museums: Der dortige ist riesig und hat nicht bloß vier Kerzen, sondern stolze 25: Eine Kerze für jeden Tag im Advent, das variiert natürlich von Jahr zu Jahr. Erfunden hat diesen Hamburger „Wichernkranz“ der evangelische Theologe und Erzieher Johann Hinrich Wichern, der die „Innere Mission“ mit gründete, also das, was heute Diakonie heißt.

Wichern betreute im 19. Jahrhundert Kinder aus armen Familien in einem alten Bauernhaus, dem „Rauhen Haus“, nach dem bis heute eine evangelische Fürsorge- und Bildungseinrichtung benannt ist. Damit jene Schäfchen selbst zählen konnten, wie viele Tage es noch bis Heiligabend waren, hat Wichern ihnen einen Kalender aus Kerzen gebastelt, ursprünglich ein aus einem Wagenrad gefertigter Holzkranz am Kronleuchter, mit roten Kerzen für die Wochentage und weißen für die Adventssonntage. Um 1860 herum war dann die heute noch gebräuchliche Version ausgereift, und auch davon haben sie im „Michel“ einen hängen.

■ „Der etwas andere Weihnachtsbaum“: bis 6. Januar, Museum für Hamburgische Geschichte/Hamburgmuseum. An Heiligabend, Silvester und Neujahr geschlossen