Eine Art Naturereignis

Die Mehrheit der Deutschen zeigt sich solidarisch mit den streikenden Lokführern. Die Mehrheit der Deutschen will gleichzeitig aber auch in den wohlverdienten Urlaub reisen. Mit ihrer Bahn. Und nun?

VON RALPH BOLLMANN

Nach den Niederlagen vor Gericht kam gestern endlich wieder eine gute Nachricht für die Lokführer. 56 Prozent der Deutschen hielten die geplanten Streiks für gerechtfertigt, meldete das Berliner Umfrage-Institut Forsa. Nur noch 37 Prozent der Befragten war der gegenteiligen Ansicht. Auch für einen Ausstand der Piloten beim Ferienflieger LTU, der möglicherweise ebenfalls bevorsteht, hätte jeder zweite Bundesbürger Verständnis. Beim Streik der Klinikärzte im vorigen Jahr belief sich die Zustimmungsrate sogar auf 80 Prozent.

Die Werte erstaunen allesamt – zählen doch Gesundheit und Jahresurlaub im deutschen Kollektivbewusstsein zu den mit Abstand höchsten Gütern. Dennoch schmoren die Leute klaglos in der Wartezone von Ambulanz, Flughafen und Bahnhofshalle, nur weil sie mit den Arbeitnehmern solidarisch sind?

Keineswegs. Patienten, Fluggäste und Bahnfahrer unterstützen die Gehaltsforderungen dieser Berufsgruppen vor allem aus Eigennutz. Niemand will von einem übermüdeten Klinikarzt behandelt, von einem unterbezahlten Lokführer chauffiert, von einem frustrierten Piloten geflogen werden. Wer ordentlich bezahlt wird, so die unausgesprochene Hoffnung der meisten Konsumenten, der macht auch ordentliche Arbeit. Die Streiks solch exponierter Berufsgruppen zehren also nicht allein von ihrer Fähigkeit, an priviliegierter Stelle den Betrieb lahmzulegen. Sie zehren auch von ihrem moralischen Kapital in den Köpfen der Bürger.

Hinzu kommt ein Moment der protestantischen Leisungsethik, die in Deutschland längst auch katholische Landesteile erfasst hat. Wer etwas leistet und so viel Verantwortung trägt wie Arzt, Lokführer oder Pilot, der soll auch sein Geld dafür bekommen. Gleiches gilt für den 55-jährigen Arbeitslosen, der seit der Lehre 40 lange Jahre an der Werkbank stand und sich nun plötzlich vor der Hartz-IV-Behörde offenbaren soll. Es gilt dagegen nicht für den 18-Jährigen, der in seinem Leben noch nie gearbeitet hat und trotzdem die Wohnkosten für eine eigene Unterkunft beansprucht. Nicht ohne Grund war dies der Passus des Hartz-IV-Gesetzes, gegen den sich die deutsche Öffentlichkeit am schnellsten und leichtesten mobiliseren ließ.

Der Katastrophismus, mit dem Teile der Öffentlichkeit von den im Sommerloch darbenden Medien bis zum Nürnberger Arbeitsgericht einen drohenden Streik aufbauschen, gehört ohnehin einer längst vergangenen Epoche an. Vergangen die Zeiten, in denen in Italien oder Frankreich ständig gestreikt wurde, in Deutschland dagegen nie. In einer Epoche, in der der konsensorientierte rheinische Kapitalismus allenfalls noch als Mythos fortlebt, hat sich das Streikverhalten längst angeglichen.

Dass der Bahn- und Flugverkehr von Klein- und Kleinstgewerkschaften nahezu unenentwegt bestreikt wird, das war in den europäischen Nachbarländern lange Zeit Normalität – ein bisschen ärgerlich zwar, aber keineswegs der Untergang einer ganzen Volkswirtschaft. Streikten in Mailand die Fluglotsen, dann fanden findige Mitarbeiter der nationalen Fluggesellschaft meist Mittel und Wege, die gestrandeten Reisenden auf anderen Wegen von Berlin nach Rom zu befördern. Und wenn der gebuchte Zug ausfiel, dann fanden sich wenige Stunden später an einem anderen Bahnsteig schon ein paar Waggons, die sich in die gewünschte Richtung in Bewegung setzten.

So wie enttäuschte Reporter gestern Morgen auf den Berliner S-Bahnhöfen vergeblich nach dem vermuteten Chaos suchten, so wird es im weiteren Streikverlauf auch im Fernverkehr gehen. Die Gelassenheit wird im Vergleich zu anderen Ländern allenfalls dadurch getrübt, dass es hierzulande außer auf den Strecken von und nach Berlin keine Fernbuslinien als Alternative zur Bahn gibt – aufgrund einer kuriosen Regelung im Personenbeförderungsgesetz, die das damalige Staatsunternehmen vor unliebsamer Konkurrenz schützen sollte.

Der Streik der Lokführer ist nur Teil einer europäischen Normalisierung. Längst überholt hat sich der alte Mythos, dass in Deutschland Revolutionen am Lösen der Bahnsteigkarte scheitern und bei der geringsten Unordnung gleich der Ruf nach einem Führer droht.

Typisch deutsch war einst auch die Unsitte, bei Problemen lieber nach dem Schuldigen statt nach einer Lösung zu fahnden. Dem gestrandeten Passagier kann es aber einigermaßen gleichgültig sein, ob Bahnchef Mehdorn oder Lokchef Schell die Schuld am Streik trägt. Für ihn, wenn auch nicht für die Bahn, ist der Streik tatsächlich „höhere Gewalt“. Eine Art Naturereignis also.