Der Typ, den Männer mögen

Für seinen Körper tut er auch was. Testosteron, Anabolika. Alles. Ein Muskeltier. Alfredo arbeitet als Callboy und Pornodarsteller. Und fühlt sich endlich frei

VON THOMAS FEIX

Erst dachte er, es geht nur bis 40. Inzwischen weiß er, dass es Callboys gibt, die sind über 60, aber das will er nicht, er denkt, er wird es bis 50 machen. Also noch sieben Jahre. Alfredo sagt, dass er ein Typ ist, den Männer mögen. „XL-Muskeltier“, sein Name im Internet. Er nimmt Anabolika, Testosteron, seit elf Jahren. Und Viagra, er spritzt sich Androskat, er schluckt Cialis, beides Mittel, die den Rückfluss des Blutes aus dem erigierten Penis verhindern. Er muss es tun, schließlich lässt er sich dafür bezahlen, dass er bereit ist, wenn er bereit sein soll. Mit Botox hat er kein Problem, und er wird es bald tun. Nur ein paar Falten an der Stirn, die tiefen, mehr nicht.

Alles im Griff, sagt er. Du musst nur viel trinken und deine Blutwerte ständig überprüfen lassen. Er weiß, dass Anabolika Prostatakrebs beschleunigen können, dass Testosteron schlafende Tumore weckt. Aber er hasst es zu versagen, er ist Perfektionist. Dieses Zeug alles, sagt er. Perfekt. Seine Arme liegen auf dem Tisch, dreimal drei Stunden Muskeltraining pro Woche, bei anderen sind nicht mal die Oberschenkel so ausgeprägt. 1,75 Meter, 92 Kilo, das Fleisch türmt sich auf, auch im Nacken, drückt Schultern, Hals und Kopf nach vorn, stuckig und sperrig sieht Alfredo deshalb aus. Auf den ersten Blick. Blanker Schädel, ausrasierter Vollbart. Auf den zweiten braune Augen, die aufmerksam sind. Ein breites Lachen. Schöne Hände.

Matiš Alfredo Stahl, genannt Alfredo, geboren und aufgewachsen in der DDR, in Tzschelln bei Weißwasser, ein Ort im Süden Brandenburgs, sorbisch, es ist ihm wichtig, dass man das weiß. Ein Strauß lachsfarbener und gelber Rosen steht auf dem Tisch. Die Kerze, die brennt, riecht dunkel, warm, kultiviert. Zimt-Vanille, Alfredo kauft immer die eine Sorte. Er breitet Bildbände aus. Badeseen, die früher Braunkohletagebaue gewesen waren. Fachwerkkirchen, Bauernkaten, Trachten, das ganze Programm. Alfredo erklärt, dass das Obersorbische zum Tschechischen tendiert, das Niedersorbische zum Lechischen. Er tendiert zum Lechischen. Die Menschen dort, in der Niederlausitz, ihr Gemüt, ihre Sprache, alles geradlinig, sagt er. 25 Jahre ist Alfredo weg von dort, ist anderswo gewesen und jetzt in Berlin, und lässt beim Erzählen kein Detail aus.

Callboy und über 40, wie seltsam das zusammenklingt. Seit 1995 macht er das jetzt, Callboy. Und Pornofilme, als Darsteller. Er ist beliebt, beim Publikum, bei den Produzenten. In drei Dutzend Filmen hat er bisher mitgespielt, kleinere Rollen, größere Rollen. Die Amerikaner buchen ihn, sie holen ihn nach San Francisco, Palm Springs, Los Angeles, regelmäßig, jetzt im März wieder. Zahlen alles, Flug, Hotel und was sonst an Spesen anfällt. Sie wollen das Tier, den Brecher, den Ledermacho, das perfekte Klischee. Perfekt. In Amerika ist Alfredo ein Star.

Frei fühlt er sich. So, wie er jetzt ist, und mit dem, was er macht. Emanzipiert, sagt er. Vom Gradlinigen: vom Bauernhof in Tzschelln, von den Eltern. Sie arbeiten, immer, ihre Mienen werden stumm, wenn es um was anderes geht als um den Hof. Kein Organ für Extravagantes, für Fragen. Protestantisch sind sie, fürs Abartige halten sie Bibelstellen bereit. Homosexualität gehört dazu und Masturbieren. Alfredos Eltern wissen bis heute nicht, dass ihr Sohn schwul ist und professionell Selbstbefriedigungsfantasien erfüllt und beflügelt. Sie denken, er hat eine Freundin und ist Firmenberater.

Irgendwie verrückt. Mit neun hatte er Testosteronspritzen gekriegt, ein halbes Jahr lang, wegen einer nicht ganz geglückten Hodenoperation, die Binnenhodigkeit, die er hatte, hatte beseitigt werden sollen. Die Körperhaare wuchsen unaufhaltsam und dann diese Dauererektion, Alfredo konnte nichts anfangen damit. Den Eltern sagten die Ärzte, dass das vorübergeht. Ging es auch. Ging so sehr vorüber, dass dann die Pubertät eine Katastrophe war.

Der Bauch wurde viel zu groß, die Brust viel zu klein, extrem war das, sagt Alfredo. Wie bei einem Greis. Nachher, mit 20, auf der Ballettschule, kriegte er Schenkel, an denen jeder Muskelstrang zu sehen war, und der Bauch wurde flach. Nur die Brust blieb, wie sie war, schmächtig. Das war nicht gut, aber es war schon besser. Gut, perfekt, wurde es erst mit den Anabolika. Und dem Muskeltraining. Auch die Behaarung passt nun, ein Pelz. Alfredo ist „Kuschelbär“, wenn es gewünscht wird, manche seiner Kunden – er sagt „Kunden“ – wollen das, das Körperhaar als Fetisch.

Aber so ist das eben. Viele Kunden fragen Alfredo, sie spritzen sich Hormone, weil sie den Körper zu mehr Sex anstacheln wollen, er versteht das nicht, diese Verzweiflung, noch einen Orgasmus und noch einen, Fleisch fickt Fleisch. „Was machen“, ist der Ausdruck. „Lass uns was machen.“ Perfekt muss es sein, Oberfläche. Und ist es nicht perfekt, wird nichts „gemacht“.

Alfredo setzt sich eine Androskatspritze, in den Penis, er schluckt Cialis und Viagra, eine Stunde bevor er mit einem Kunden zusammenkommt, zwei Stunden lang hält das vor, zehn Kunden am Tag hat er schon geschafft, er hatte durchgearbeitet, den Tag, die Nacht, zehnmal Androskat, Cialis und Viagra, er will in Zukunft nicht mehr als sechs Kunden am Tag „machen“. Sie melden sich übers Internet bei ihm, gayromeo.com, der Escortservice, manche mit Fotos, auf denen er nichts zu sehen kriegt als ihren Unterleib, von vorn und von hinten, andere schicken ihm ihre Maße, ohne Kommentar. Sie lassen ihn kommen, mit dem Zug, in ihre Stadt, ihren Ferienort, sie fliegen ihn ein, Leute aus Deutschland, Frankreich, Spanien, für eine Stunde, einen Tag, eine Woche, für zwei, sie zahlen 1.000 Euro pro Tag, damit er zu ihnen kommt. Sogar europäische Geschäftsreisende, die im arabischen Raum zu tun haben, buchen ihn, das ist für ihn Abenteuer, weil es verschwiegen passieren muss. Oder die Männer kommen zu ihm in die Wohnung, in die Karl-Marx-Allee in Berlin-Friedrichshain, in einen der hellen, hohen Bauten, mit denen sich die DDR einst repräsentieren wollte.

Er sagt, dass er als Jugendlicher verkümmert war, sexuell, er war jemand, der das durch was Künstlerisches zu kompensieren suchte. Er hatte immer was Künstlerisches werden wollen. Landschaftsarchitekt etwa, Landschaft ist das Einzige gewesen, das er bei den Eltern in der Niederlausitz ausreichend hatte. Schließlich wurde er Gärtner und dann Tänzer, weil dem Ballettmeister des Sorbischen Nationalensembles der DDR bei einer Feier seine geschmeidigen Bewegungen aufgefallen waren. Tanz ist Kampf, sagt Alfredo. Kampf des Mannes um eine Frau. Das Zelebrieren des Kampfes. Als er dann Tänzer war, hatte Alfredo seine erste Liebe, Luisa-Romana, ein brünettes Mädchen aus Österreich.

Er hatte sie 1987 kennengelernt, während einer Tournee durch Kärnten. Die Tänzer waren Reisekader. Luisa-Romana kam zu ihm in die DDR, in die Niederlausitz, sie war sein erstes Mal, er war 25, sie haben eine Tochter, die jetzt 19 ist. Luisa-Romana war es auch, die ihm sagte, was er noch gar nicht wusste. Alfredo, sagte sie, du bist schwul, glaub’s mir. Frauen haben diesen Instinkt, sagt er. Fortan sah er Männer mit anderen Augen an. Und hatte eines Nachts diesen Traum, in dem ein Mann vorkam, ein Mann ohne Gesicht und mit eingeöltem Körper, nur er und der Mann, und dann hatte Alfredo einen Orgasmus, einen echten, nicht bloß einen im Traum. 1991 war das. Eine Frau hat mich erweckt, sagt er. Es sind solche Geschichten, wie ein Traum.

Spät war es, meint Alfredo. Fast zu spät. Auf jeden Fall nicht gut fürs Selbstbewusstsein. Seine Muskeln brauchen viel Protein, Putenfleisch, Hühnerfleisch, Fisch, Joghurt, Quark. Kohlenhydrate gibt er ihnen nur so viel, wie unbedingt nötig. Kein Schweinefleisch. Im Augenblick ist er mit Hüssein zusammen, einem Türken, einsfünfundfünfzig groß, ein kleiner Mann, kippliges Selbstbewusstsein. Auch er nimmt Anabolika, Testosteron, auch er muskelbepackt, bepelzt. Auch er will perfekt sein, als Callboy, als Pornodarsteller, so haben sie sich kennengelernt.

Kaum was ist geradeaus, Alfredos Weg auch nicht. Vielleicht war es das: zu Anfang eine Idee, dann ein Versuch. Frei vom Zwang zu sein, Minderwertigkeitskomplexe abzuwerfen, vor allem die sexuellen. Oder das: der Hang zum Exhibitionismus. Anderen die Illusion von Schönheit, Zeitlosigkeit und Vitalität zu vermitteln und dabei selbst schön, zeitlos und vital zu erscheinen, ein Vorbild. Perfekt, Oberfläche. Alfredo nennt es ein Aussteigermodell, Callboy und Pornodarsteller geworden zu sein. Ein individuelles, autonomes, alternatives Modell. Er hatte immer Angst vor Körperkontakten gehabt, wegen der Bibel und der komischen Pubertät. Und jetzt ist es sein Beruf, die intimsten Körperkontakte vorzuführen. Was Künstlerisches? Ein Zelebrieren, wie der Tanz? Sexualtherapie? Irgendwie verrückt.

Er weiß, was ihn erwartet, was von ihm erwartet wird, wenn er zum Drehort fährt oder zu einem Escorttermin, er wird nie versagen, er ist vorbereitet. Im Kopf, das ist das Entscheidende, sagt er, nicht die Hormone und die anderen Mittel. Spielerisch musst du es sehen, freiwillig, menschlich, nicht wie eine Maschine. Dann wird es perfekt werden.

Beim Dreh zum Beispiel, sagt er, da ist es zu sehen, da gibt es diese Momente, wo es Spaß ist, echt, authentisch, Lebensfreude, Freiheit. Magische Momente, für die Darsteller und nachher für das Publikum. Wo zu sehen ist, dass die Partner auf dem Set gut miteinander können, dass sie sich mögen, menschlich, und deshalb loslegen, atemlos, jenseits von Androskat und Viagra. Auf den Menschen kommt es an, sagt Alfredo. Der Mensch ist das Abenteuer, nicht der Fick. Das weiß er jetzt, nach elf Jahren im Geschäft und Hunderten von Partnern und Kunden. Eine Binsenweisheit. Aber muss sie deswegen ungesagt bleiben?

Alfredo hat nie ein Detail vergessen. Ob er nun die Emser Depesche erwähnt hat, die den Deutsch-Französischen Krieg von 1870 auslöste, denn Geschichte ist seine Leidenschaft, oder wie es ist, „mit offenem Arschloch auf dem Set dazuliegen, schön ausgeleuchtet, und die Crew richtet neu ein“, sein Redefluss glitt dahin, sein Tonfall war stets derselbe, sanft und leise. Nie hat er die Stimme gehoben, nie gesenkt, nie hat er sich unterbrechen lassen. Und wenn er dann fertig geworden war, hat er die nächste Frage wieder in jeder Einzelheit beantwortet, ein neuer Monolog, in Schleifen und Schnörkeln. Er verschwand darin, war nicht mehr wiederzufinden. Unmöglich, zu einem durchzudringen, der sich selber gerne reden hört. Alfredo blieb Oberfläche. Perfekt, bis zum Schluss. Er ist so, wohl sogar dann, wenn er nicht so sein will.

Wenn er 50 geworden sein wird, wird er aufhören mit dem Leben, das er jetzt führt. Und ein neues beginnen. Vielleicht als künstlerischer Berater am Theater, bei einem Tanzensemble. Vielleicht als Garten- oder Landschaftsplaner, er hat das nie aus dem Blick verloren. Oder Projekte mit schwulen Künstlern veranstalten. So stellt er es sich vor. Perfekt.

THOMAS FEIX ist Jahrgang 1960 und lebt als freier Autor in Berlin