Der versöhnte Ex-Rebell

Die 61 Jahre waren ihm nicht anzumerken. Unentwegt tigerte Ewald Lienen in seiner Coaching-Zone auf und ab, nur unterbrochen von kurzen Aufenthalten an der Trainerbank, wo er sich eilige Notizen machte – eine Angewohnheit, die ihm den Spitznamen „Zettel-Ewald“ eingebracht hatte. Knapp fünf Tage hatte Lienen zuvor Zeit gehabt, nach seiner überraschenden Verpflichtung als neuer Trainer des abstiegsbedrohten FC St. Pauli sein Team kennenzulernen und erste Impulse zu setzen.

Die vielen Einzelgespräche und Taktiksitzungen, die er in dieser Zeit führte, zeigten Resultate. Schon bei der Niederlage gegen den Spitzenreiter FC Ingolstadt sah die zuvor oft verängstigt auftretende Mannschaft am Mittwoch vergleichsweise gut aus, gegen den VfR Aalen ging dann am Samstag die Saat auf: Mit einem ungefährdeten 3:1 fegten die Hamburger den Abstiegskonkurrenten vom Platz, boten die beste Heimpartie der Saison und stellten Kontakt mit der Nicht-Abstiegszone her.

Da konnte Lienen nach der Partie sich selbst und seinen Spielern verbal auf die Schulter klopfen: „Überragend“ sei der Auftritt gewesen, und seine eigenen Kurzzeit-Bemühungen, dem Team wieder Spielfreude und taktische Disziplin zu vermitteln, „offenbar erfolgreich“.

Lienen und St. Pauli: Ob aus der Verpflichtung des ehemaligen Bielefelder Stürmers, der zuvor bereits 14 Profivereine im In- und Ausland betreute, noch eine große Liebe werden kann, wird in den Fanforen des Kiez-Clubs angeregt diskutiert. Die Lienen-Fans verweisen darauf, dass der Coach in den achtziger Jahren als Fußball-Rebell galt, der mit schulterlanger Mähne und kritischen Äußerungen zum Fußball-Kommerz gern gesehener Gast auch auf DKP-nahen Großveranstaltungen war.

Inzwischen ist Lienen mit dem großen Fußball-Kommerz versöhnt, spricht nun davon, dass sein neuer Verein „eine der interessantesten Marken im deutschen Fußball“ sei. Das Präsidium verpflichtete Lienen ohnehin nicht wegen seiner linken Vergangenheit, sondern setzt mit ihm auf die Karte „Erfahrung“, nachdem sich zuletzt mit Roland Vrabec und Thomas Meggle zwei Trainer–Newcomer ziemlich erfolglos an der Mannschaft ausprobieren durften.

Und auf Erfahrung setzt auch Lienen: Mit Bernd Nehrig, Michael Görlitz und Tom Trybull hatte Lienen gleich drei gestandene Profis für die Partie gegen Aalen auf dem Zettel, die zuvor aussortiert worden waren. Das Terzett dankte dem Trainer sein Comeback mit guten Leistungen und Lienen kann nun mit dem beruhigenden Gefühl die Weihnachtstage genießen, zumindest bislang so ziemlich alles richtig gemacht zu haben.  MARCO CARINI