Wer hat Angst vor den Almancis …?

50 JAHRE GASTARBEITER Das „Theaterfestival Almanci! – 50 Jahre Scheinehe“ im Ballhaus Naunynstraße reflektiert in den kommenden zwei Monaten die deutsch-türkische Migrationsgeschichte

Das Festival erzählt die Geschichten der Almanci aus ihrer eigenen Perspektive

VON ALEM GRABOVAC

Die Almancis sind anders, stehen zwischen den Kulturen, haben mehrere Heimaten, stehen quer zu den herkömmlichen nationalen Kontexten und werden aufgrund ihrer Hybridität von der vermeintlich homogenen Mehrheitsgesellschaft oftmals als Bedrohung wahrgenommen. In Deutschland nennt man sie Ausländer, Gastarbeiter oder seit neuestem Menschen mit Migrationshintergrund. In der Türkei heißen sie Almanci – Deutschländer. Für die türkischen Inländer ist der Almanci ein ungebildeter Anatole, ein dummer Bauer, ein aufschneiderischer Neureicher, der mit seinem Mercedes und seinen vielen Geschenken in seinem türkischen Heimatdorf groß auftrumpft. Und für die deutschen Inländer ist er ein Kopftuchmädchen, eine Gebärmaschine, ein Ehrenmörder und Integrationsunwilliger.

Vor 50 Jahren wurde die Mauer gebaut und vor 50 Jahren wurde das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei unterzeichnet. 50 Jahre Vorurteile, Missverständnisse, Liebe, Hass, Döner Kebab und Currywurst. Der einmillionste Gastarbeiter war der portugiesischer Zimmermann Armando Rodrigues de Sá. Auf dem Bahnhof Köln-Deutz wurde er vom damaligen Innenminister mit einem Strauß Nelken und einem zweisitzigen Zündapp-Moped herzlich willkommen geheißen. Die Werkskapelle spielte zur feierlichen Begrüßung George Bizets „Auf in den Kampf, Torero!“. Was hätten sie gespielt, wenn der einmillionste Gastarbeiter ein Türke gewesen wäre – Mozarts „Entführung aus dem Serail?“.

Das „Theaterfestival Almanci! – 50 Jahre Scheinehe“ im Ballhaus Naunynstraße reflektiert diese und andere Geschichten in den kommenden zwei Monaten mit Theater-, Film-, Musik,- und Literaturaufführungen. Shermin Langhoff, die künstlerische Leiterin des Ballhauses, sagt: „Das Festival erzählt die Geschichten der Almanci aus ihrer eigenen Perspektive. Es ist an der Zeit, dass wir uns mit all unseren Widersprüchen selbst konstruieren und sichtbar machen.“ Nicht die Mehrheitsgesellschaft definiert die Anderen – sondern die Anderen kreieren mit ihrer eigenen Sprache und Formgestaltung einen dritten Raum, der sich jenseits einer homogenen deutschen oder türkischen Identität bewegt und entfaltet.

In Nurkan Erpulats Stück „Verrücktes Blut“ kommt es zu einer wahnwitzigen Geiselnahme. Eine Lehrerin bedroht mit vorgehaltener Waffe in der Hand ihre disziplinlosen Schüler mit Migrationshintergrund. Jetzt müssen sie sich mit Friedrich Schillers „Die Räuber“ auseinandersetzen. In Hakan Savas Micans „Der Besuch“ entspinnen sich vielschichtige Konflikte und Freundschaften zwischen Israelis und Deutsch-Türken in der Großstadt Berlin. In Emine Sevgi Özdamars Drama „Perikizi“, das Ende September im Rahmen des Festivals herauskommt, träumt eine junge Istanbulerin vom Wunderland Deutschland, von dem aus sie eines Tages als Elfenkönigin Titania aus dem Sommernachtstraum sämtliche Bühnen Europas erobern möchte. Trotz aller Diversität stehen im Zentrum der Inszenierungen die gleichen Fragen: Was ist Heimat? Wo gehöre ich hin? Was ist Identität? Wie ist ein gutes Zusammenleben möglich? Wie definiert sich ein Almanci im 21. Jahrhundert?

Ergänzt werden die Theateraufführungen durch eine Filmreihe und literarische Vorträge. In der von Tuncay Kulaoglu kuratierten Veranstaltung „Gegen die Leinwände“ werden 50 deutsch-türkische Filme gezeigt. Vom Stummfilm der zwanziger Jahre bis hin zu Fatih Akins „Auf der anderen Seite“ soll der Zuschauer einen Überblick über die Historie und Vielfalt der deutsch-türkischen Filmlandschaft bekommen.

„Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen“, hat Max Frisch einmal gesagt, und nach 50 Jahren scheinen diese Menschen endlich ihre eigene Sprache gefunden zu haben. Ganz egal ob im Kinofilm, in der Musik, der Literatur oder im Theater, die Almanci sind da, erzeugen Gegenbilder, wehren sich gegen vereinfachende Stereotype und erfinden ihre eigene komplexe Identität.

Zum erfolgreichsten Aushängeschild des 2008 von Shermin Langhoff gegründeten Ballhaus Naunynstraße wurde die Produktion „Verrücktes Blut“, die gerade in der Kritikerumfrage von Theater heute zum Stück des Jahres gewählt wurde. In den ersten drei Spielzeiten erreichte das kleine Haus über 75.000 Besucher. Diese Geschichte zeigt, dass es in der Bevölkerung ein Bedürfnis danach gibt, die Fragen nach der Identität und eines gelingenden Zusammenlebens – jenseits von stumpfsinnigen Assimilationsforderungen und einer realitätsfremden Multikultirhetorik – nochmals ganz neu miteinander zu verhandeln.

50 Jahre Almanci, „50 Jahre Scheinehe“, so der Untertitel des Festivals. Von einer goldenen Hochzeit kann keine Rede sein. Damit die Beziehung zwischen den Deutschen und den Almancis zu einer Partnerschaft auf Augenhöhe wird, bedarf es noch vieler Sitzungen auf der Couch des Paartherapeuten. Aber wer weiß, vielleicht entsteht ja irgendwann aus all diesen gemeinsamen Arbeits-, Theater-, Literatur-, Musik-, Film- und Lebenswirklichkeitssitzungen tatsächlich noch eine richtige Beziehung, in der man sich achtet und respektiert und möglicherweise sogar kreativ befruchtet?

■ Heute eröffnet das Theaterfestival mit „Pauschalreise – Die 1. Generation“ (20 Uhr) und der Kammeroper „Was will Niyazi in der Naunynstraße“ (18 Uhr)