TAZ-ADVENTSKALENDER: TAUENTZIENSTRASSE 22
: „Dit sind Zuchtaustern“

22. DEZEMBER Jedes Haus hat eine Nummer. Doch was dahintersteckt, wissen nur wenige. Zum Glück gibt es Adventskalender: Da darf man täglich eine nummerierte Tür öffnen – und sich überraschen lassen

Die Austernbar im KaDeWe hat geschlossen? Auf der Suche nach schwerreichen Berliner Damen mit Pelzkragen und tiefroten schmalen Lippen, die – so dachte die Autorin – schon am Vormittag am Champagnerglas in der Feinschmeckerabteilung nippen, fällt der Blick nur auf ein paar leere Barhocker. Geschäftiges Treiben aber herrscht hinter dem Tresen. Kellner in gestärkten Kochuniformen stellen große Holzkörbe voll mit Austern in die mit Eiswürfeln gefüllten Regale. Baguettes werden herangeschafft, Zitronen halbiert, Gläser poliert – die Vorbereitungen für das große Fressen laufen.

Zeit überbrücken in der Patisserie, vorbei an blank geputzten Vitrinen, in denen Borkentrüffel, Marzipanpasteten und Eclaires liegen. An einem Tisch hat sich ein lustiges Trio bei Irish Coffee eingefunden. Die Damen plaudern über den Berliner Himmel, aus dem es zum ersten Mal schneit: „Die Schneeflocken kommen aus der Schweiz“, sagt die eine mit dem glatt gecremten Hals, um den schöne Perlen liegen. Die andere – sie ist zum ersten Mal in der Stadt – ist enttäuscht: „Alles so leer hier“, sagt sie „fast wie in einer Kleinstadt“. Die Dritte – wahrscheinlich eine Berlinerin – setzt zu Erklärungen an, doch dann zischt der Milchschäumer einfach darüber hinweg.

Kurz darauf empfehlen sich die Damen. Man bedankt sich überschwänglich für den schönen Vormittag, geschürzte Lippen hauchen Küsschen in die Luft. Dann biegen drei Pelzkragen um die Ecke.

Der Kellner hat verstanden

Die Austernbar ist jetzt geöffnet. Champagner fließt, doch nicht in die Kehlen von schwerreichen Damen. Nur ein paar Geschäftsleute in feinen Wolljacketts schauen zur Mittagszeit stumm auf die leergegessenen Muschelschalen auf ihren Tellern. Und dann kommt Freddy – lichter Pferdeschwanz, wässrige Augen, pralle rote Wangen – und bestellt: „une Loch Fyne, une Sylter Royal et un Papillon“. Der Kellner hat verstanden. Gezielt greift er in die Körbe und sucht drei unterschiedlich marmorierte Schalentiere heraus. Mit einem langen Messer teil er die Muscheln in zwei Hälften, legt sie zu Zitrone und Baguette auf einen Teller und stellt alles auf den Tresen.

Freddy – gebürtiger Konstanzer, durch Handel zu Geld gekommen, jetzt Wahlgrieche auf Rhodos – ist seit 25 Jahren „endlich mal wieder in Berlin“. Er greift zur Zitrone, beträufelt das graue Fleisch in der Muschel, löst es mit der Gabel und lässt es in seinem Mund verschwinden. Dann nimmt er die Austernschale in die Hand, schlürft laut den Sud hinunter: „Süper!“, sagt Freddy.

Zeit für eine Frage: „Wonach schmeckt’s denn?“ „Alors“, sagt Freddy: „Jod, Schalotte, Knoblauch et un peu Essig.“ Er greift jetzt in die Hosentasche und holt einen kleinen Schreibblock hervor, auf dem „Gendarmenmarkt“, „Pergamonmuseum“ und „Große Hamburger Straße“ handschriftlich notiert sind. Freddys Programm für die nächsten drei Tage. Beim Checkpoint Charlie war er schon. „Kenne ich noch von damals“, sagt Freddy, „die DDR-Grenzer waren harte Jungs.“ Er greift zur nächsten Muschel: Zitrone, Gabel, schlürfen. Nächste Frage: „Kommen die Austern aus dem gleichen Meer?“ „Dit sind Zuchtaustern“, funkt der Kellner dazwischen. Freddy schlürft derweil die letzte Muschel leer, er muss weiter: Seezunge essen. „Tschau, tschau“, sagt er zum Abschied „und komm mich mal auf Rhodos besuchen.“ JULIA BOEK