Die zweite Ermordung der Armenier

NATIONALGESCHICHTE Der Genozid fehlt weiter in türkischen Schulbüchern

ISTANBUL taz | Am 24. April dieses Jahres, dem 99. Jahrestag des Genozids an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915, gab der damalige Ministerpräsident Erdogan eine Erklärung ab, die es so seit der Gründung der Türkischen Republik noch nicht gegeben hatte. Auch wenn er es nach wie vor vermied, von einem Völkermord an zu reden, sprach er den Nachkommen der Getöteten sein Beileid aus und rief dazu auf, in einem Geist gegenseitiger Verständigung in einen Dialog über die Ereignisse einzutreten.

Voraussetzung dafür wären minimale Kenntnisse der Katastrophe von 1915, die an den Schulen vermittelt werden müssten. Armenier in der Türkei und im Ausland hofften deshalb darauf, dass die Geschichtsbücher für das Schuljahr 2014/2015 etwas anders aussehen könnten als bisher. Doch der Blick in die aktuellen, für alle Schulen verbindlichen Geschichtsbücher für die 10. und 11. Klassen ist ernüchternd: Nach wie vor werden die Armenier nicht als Opfer präsentiert – sondern als Täter.

Konkret: Angehörige der Minderheit hätten während des Ersten Weltkrieges – die Türkei war mit Deutschland und Österreich-Ungarn verbündet – ihr Land an die russischen Kriegsgegner verraten, armenische Separatisten gar loyale Landsleute ermordet. Die Deportationen wären vor allem zu deren Schutz erfolgt. Den 300.000 armenischen Opfern stünden über eine Million von Armeniern ermordete Türken gegenüber.

Obwohl in der Türkei seit Jahren öffentlich und kontrovers über den Völkermord an den Armeniern diskutiert wird: In den Schulbüchern hat sich das nicht niedergeschlagen. Kritische Geschichtslehrer beklagen im Gegenteil, dass das Bildungsministerium im Vorfeld des 100-jährigen Jahrestags des Völkermordes bemüht ist, die Reihen wieder fester hinter der offiziellen Position zu schießen. So wurden Kurse für Pädagogen eingerichtet, in denen diese lernen sollen, wie sie den Völkermord-Vorwurf abwehren können. Broschüren mit entsprechenden Argumenten, die an den Schulen verteilt werden sollen, sind in Arbeit. „Die Situation für die Armenier in der Türkei hat sich in den letzten Jahren zweifellos verbessert“, sagte ein Lehrer einer armenischen Schule gegenüber der taz, „aber in den Schulbüchern hat sich das leider noch nicht niedergeschlagen.“ JÜRGEN GOTTSCHLICH