Die subversive Kraft der Post

AUSSTELLUNG Mit einem Poststempel machte Edgardo-Antonio Vigo das Verschwinden seines Sohnes publik. Die Weserburg zeigt weitere Beispiele seiner politischen Kunst

„So ein Umschlag ist schon ein Kunstwerk für sich, Vigo zu Folge sollte das Innere mit dem Äußeren in Korrespondenz stehen“, erläutert Bettina Brach

von Radek Krolczyk

Am 30. Juli 1976 war der 19-jährige Abel Luis Vigo auf einmal spurlos „verschwunden“. Nachdem im März das Militär unter Jorge Rafael Videla in Argentinien die Regierungsgewalt an sich gerissen hatte, gehörte der Terror gegen die linke Opposition zum Tagesgeschäft. Insgesamt wurden in den Jahren bis 1983 etwa 2.300 Menschen ermordet, etwa 30.000 „verschwanden“ einfach, wie Abel Luis Vigo, ohne jemals wieder aufzutauchen.

Bis heute kämpfen die „Madres de Plaza de Mayo“, ein Zusammenschluss betroffener Mütter, um die Aufklärung der Verbrechen der Militär-Junta – meist vergeblich. Gleichwohl findet seit einigen Jahren eine Aufarbeitung der Militärherrschaft statt. In Folge der Aufhebung der Amnestiegesetze verurteilte 2006 ein argentinisches Gericht den ehemaligen Polizeikommandeur Miguel Etchecolatz wegen Mordes und Folter an Regimegegnern zu lebenslanger Haft. Das Konterfei des aller Wahrscheinlichkeit nach verschleppten Abel Luis ist nun in der Galerie des Studienzentrums für Künstlerpublikationen in der Weserburg zu sehen.

Auf Briefumschlägen prangt es in blauer Stempeltinte, darunter die Forderung nach seiner Freilassung. Der Hinweis „First Day Cover“ – Ersttagsstempel – versucht die politische Botschaft als authentischen Poststempel erscheinen zu lassen. Der Entwurf für den Stempel stammt vom Vater des verschleppten Jungen, dem Konzeptkünstler Edgardo-Antonio Vigo, dessen postalischem Werk die Weserburg jetzt eine Ausstellung widmet.

Vigo wurde 1928 in der argentinischen Provinzhauptstadt La Plata geborenen wo er 1997 starb. Besondere Bedeutung hatte für ihn zeitlebens die Verbindung von künstlerischer Praxis und Kommunikation. Im Archiv für Künstlerpublikationen des Studienzentrums finden sich von ihm herausgegebene und gestaltete Zeitschriften, vor allem aber Briefe, die er an Freunde, Verwandte und andere Künstler verschickte.

„So ein Umschlag ist schon ein Kunstwerk für sich, Vigo zu Folge sollte das Innere mit dem Äußeren in Korrespondenz stehen“, erläutert Bettina Brach, Kuratorin der Ausstellung. Vigo bedient sich bei der Herstellung seiner Briefe unterschiedlicher Drucktechniken und Materialien, aus denen er Collagen erstellt. Neben Umschlägen und Postkarten gehören auch Stempel und Briefmarken zu seinen Ausdrucksformen.

Die Möglichkeiten der Mailart stellten für Vigo, wie für viele andere Künstler in autoritär regierten Staaten, mehr als eine Spielerei dar. Wie so oft, kam auch hier die künstlerische Praxis der Genrebildung zuvor: „Von Mailart war damals gar nicht die Rede: Die Künstler konnten in ihren Ländern nicht arbeiten. Sobald sie öffentlich in Erscheinung traten, wurden sie verfolgt, ihre Kunst wurde zerstört. Dann haben sie gemerkt, dass es in anderen Ländern auch Künstler gibt, die verfolgt wurden, in Osteuropa, aber eben auch in anderen Ländern Lateinamerikas“, so Anne Thurmann-Jajes, Leiterin des Studienzentrums. Mit Hilfe der Mailart-Praxis bauten diese Künstler Netzwerke auf. Vigo dienten seine Briefumschläge, Postkarten und Stempel nicht zuletzt dazu, um auf verstecktem Wege „zu kommunizieren, zu informieren, zu dokumentieren“, betont die Kuratorin. Der eingangs erwähnte Poststempel gab Vigo die Möglichkeit, die Entführung seines Sohnes in verdeckter Weise öffentlich zu machen und dessen Freilassung zu fordern.

An der Geschichte dieses Stempels zeigt sich der Internationalismus der Mailartszene: Der Worpsweder Künstler Peter-Jörg Splettstößer hatte den Stempel nach einem Entwurf Edgardo-Antonio Vigos angefertigt und nach Argentinien geschickt. Splettstößer arbeitete damals an einem Künstlerstempelkatalog, für den er Entwürfe von etwa 100 Künstlern sammelte. Vigo pflegte zahlreiche Mailart-Freundschaften mit osteuropäischen Künstlern wie mit dem Ungarn György Galántai oder Robert Rehfeld aus der DDR. Obwohl die osteuropäischen Regime mit lateinamerikanischen Diktaturen kaum zu vergleichen sind, gab es aufgrund der Zensur hier wie dort eine große Mailart-Szene.

Besonders eng war Edgardo-Antonio Vigo mit dem Uruguayer Clemente Padin verbunden. Hier zeigt sich die Kraft der Solidarität der durch Mailart entstandenen Künstlernetzwerke. „Als Clemente Padin 1977 im Gefängnis verschwand und sein gesamtes Persönliches Archiv vernichtet wurde, engagierten sich andere Mailartkünstler für ihn“, erzählt Thurmann-Jajes. Der Druck des internationalen Netzwerkes führte zwei Jahre später zu seiner Freilassung.

■ bis 29. 1. 2012, Weserburg