Der beschleunigte August

Lemmy, Miss Marple, Sommer, Herbst: Es ist alles eins. Und es geht sehr schnell

Stefan ist auf der Mailbox, er hätte was Wichtiges, sagt er, er rufe aber später noch mal an, kein Problem, „du kommst mir eh nicht aus, Bürscherl“, sagt er. Na, wenn das so ist, kann ich ihn auch zurückrufen. Hallo, sorry, ich war ein paar Tage nicht erreichbar, weil ich auf dem Berg, auf der Almhütte war. „Ich beneide dich“, sagt Stefan. Dabei braucht er mich jetzt ja nicht zu beneiden, weil ich jetzt ja nicht mehr auf der Alm sitze, sondern hier in meiner unaufgeräumten Wohnung in München.

Beneidenswert wäre – oder wäre gewesen, kommt drauf an, wie wichtig einem das Konzept von der linearen Zeit ist – mein Ich von vor 48 Stunden. Den beneide ich ja selber, den Kerl. Der saß schön gemütlich auf der Terrasse in der warmen Sonne, aber auch schön gemütlich in der Stube am warmen Ofen. Tätschelte Kühe. Und ließ sich ein bisschen von den einheimischen Burschen veräppeln. (Die Auskunft, man habe sich Arbeit mitgebracht unter Verweis auf den summenden Laptop wird mit der schnippischen Bemerkung quittiert: „Ach so, ich dachte richtige Arbeit.“) Er war nur doch etwas irritiert, als der Bauer der Nachbarhütte seine Kühe sammelte, sich zum Trieb ins Tal anschickte und somit quasi vor seinen Augen den Sommer offiziell beendete, Anfang August.

Er stieg dann selbst vom Berg – und unten war Herbst. Die Straßenmusiker am Rosenheimer Platz spielten im Nieselregen und in dicken Jacken „Autumn Leaves“. Im Büro hatte die Arbeit an der Oktober-Ausgabe unseres Heftes begonnen. In der E-Mail-Box lagern Newsletter mit Informationen wie: „Motörhead heizen dem Winter ein!“ (Stellen Sie sich übrigens bitte mal vor, Ihnen hätte 1977 jemand gesagt, Motörhead würden im Jahr 2007 im Rahmen ihrer ca. 378. Welttournee noch immer „dem Winter einheizen“. Ach, Sie waren da noch nicht geboren. Dann stellen Sie sich eben zusätzlich vor, sie wären da schon geboren gewesen. Oder wissen Sie was: Stellen Sie sich doch einfach vor, was sie wollen.)

„Wir suchen die Stars von morgen!“, quäkt das Popradio. Danke auch, mir reichen die von heute momentan dicke. Mir geht das alles zu schnell. Und jetzt kommt auch noch Stefan daher. Stefan ist der Redakteur und, sagt er jetzt, er bräuchte die tazzwei-Kolumne diesen Monat zwei Tage früher. Offenbar sind sich alle einig, dass mein August ein bisschen Beschleunigung braucht.

Na, bloß gut, dass der Text a) jetzt eh schon halb fertig ist und ich b) gerade in der schönsten Zeitschleife stecke. Was soll man an so einem regenumpeitschten Herbstabend auch anderes machen, als sich die „Lange Miss-Marple-Nacht“ im Bayerischen Fernsehen reinzutun? Ja, es ist wahr: Der BR hat neben den standardmäßigen jährlich 27 „Langen Miss-Marple-Nachmittagen“ jetzt auch eine „Lange Miss-Marple-Nacht“! Es musste für diese programmplanerische Volte wohl eine zweifellos bereits angesetzte Wiederholung der „Don Camillo“-Filme drangegeben werden, aber hey! Alle vier Filme mit Margaret Rutherford, am Stück, mit genau NULLmal Wegzappen. (Als ich nach dem Abspann von „Mörder ahoi!“ die Fernbedienung anfasse und prompt in einen Telefonsex-Jamba-Tralala-Werbeblock reintappe, setzt kurz kulturgeschockt das Hirn aus). Zappen war gestern, heute googelt man beim Glotzen – ich schließe ein paar mir seit 30 Jahren nicht bewusst gewesene arge Wissenslücken über die Miss-Marple-Filme.

Wussten Sie – ich wusste es nicht –, dass nur einer der vier Rutherford-Filme überhaupt auf einer Marple-Geschichte von Agatha Christie basiert? Dass die ausgesprochen crazy Rutherford-Marple so gut wie nichts mit der völlig anders angelegten Christie-Marple zu tun hat? Dass es Mr. Stringer nur in diesen Filmen gibt und sein Darsteller Stringer Davis – meine Lieblingsinformation – der Ehemann von Margaret Rutherford war, die für ihn diese Rolle in die Drehbücher schreiben ließ? Und ja, da steht es, im englischen Wikipedia-Eintrag: „The Rutherford films are frequently repeated on television in Germany.“ Ich freu mich schon aufs nächste Mal, im Winter. Ist ja nicht mehr lange hin.

JOSEF WINKLER über ZEITSCHLEIFE

Fragen zum August? kolumne@taz.de MORGEN: Jörn Kabisch über DAS GERICHT