ausgehen und rumstehen
: Genderfucker und die Unsterblichkeitssehnsucht der Futter-Wurst

S. feiert ihren Geburtstag im Radetzky. Das liegt in der Nähe vom Postfuhramt und ist eine Art verfeinernde Phantasie über Die Prollige Kneipe. Es gibt eine Juke-Box mit neuester elektronischer Musik und eine Getränkespezialität, die dem Klassiker „Fanta mit Korn“ nachempfunden ist – nur dass hier eine köstliche selbstgemachte Limonade an die Stelle der Fanta tritt.

S. ist von Beruf Werberein, ihr Hobby aber ist das Radetzky. Sie hat sich extra eine Wohnung oben drüber genommen, damit sie nach der letzten Runde immer direkt ins Bett purzeln kann. An der Bar trägt sie gerne Krawatte und manchmal sogar falsche Koteletten. „Der einsame Kneipenbesuch ist immer noch eine Männerdomäne, in der man als Frau nicht unbedingt ernst genommen wird“, sagt sie. Aber auch sie muss doch ahnen, dass niemand ihre zarte, vom jahrelangen Trinken eher konservierte als zerstörte Gesichtsbildung für die eines Mannes halten kann. Um ihr die Sache aber auszureden, sehen wir sie immer viel zu gerne in ihrem genderfucking sexy Aufzug.

Jede Menge ist jetzt los im Radetzky. Die Kellnerin ist zu Recht sauer über unsere Geburtstagsfeier und den damit verbundenen Andrang. „Wir sind eigentlich keine Stehkneipe“, sagt sie, und es ist sofort klar, dass keine Mehreinnahme und kein noch so gutes Trinkgeld ihr die Gemütlichkeit ersetzen kann, die wir zerstört haben. Trotzdem bleiben wir. Der Autor W. ist da und sucht, wie schon seit Monaten, einen Titel für seinen bald fertigen Wüstenkrimi. Von meinem Favoriten „Oase des Wahnsinns“ will er sich aber absolut nicht überzeugen lassen. Auch meine Schwester ist mit ihrem dicken Freund gekommen. Alle paar Wochen sehe ich den Freund, und jedes Mal ist er wieder dicker. Meine Schwester scheint das nicht zu stören, ich meine, sie sogar mal dabei gesehen zu haben, wie sie mit einem gewissen Besitzerstolz über den gewaltigen Bauch streichelte. Vielleicht ist meine Schwester ja ein Feeder, jemand, der seinen Partner aus Sexynessgründen so lange füttert, bis er ein deutliches Übergewicht erreicht hat.

Sehr erfreut bin ich, A. und ihren Freund C. zu treffen, mit ihnen gehe ich auch noch weiter, als die böse Kellnerin hinter uns das Radetzky abschließt. Wir landen im Uncanny Valley, einem Laden, der sich das „Klassik im Club“-Konzept der Yellow Lounge in düsterer Abwandlung zu eigen gemacht hat. Der DJ spielt vor allem todessehnsüchtige, arg dissonante englische Madrigale aus der Tudor-Zeit. Trotz dieses sehr speziellen Programms füllt ein für diesen Teil von Mitte (zwischen Kaffee Burger und Bergstüb’l) ab einer gewissen Uhrzeit typisches Baggerpublikum die Räume. Männer taumeln zu den wenigen Frauen, sie wollen sie dringend sprechen und später berühren. Mit der traurigen Musik als Soundtrack haben sie etwas entschieden Zombiehaftes.

Am nächsten Morgen wache ich mit C. und A. zusammen in C.s riesigem Bett auf. Die beiden meinten, nachdem wir das Uncanny Valley verlassen hatten, ich sei zu betrunken, um noch nach Hause zu gehen. In Wirklichkeit waren sie aber nur zu betrunken, um mich gehen und so die bierselige Geselligkeit enden zu lassen, die Guten. Jetzt aber fühlen sie sich körperlich nicht so toll.

Ich stehe auf, und gehe raus, um uns die vegetarischen Kraut-Hot-Dogs zu besorgen, die wir brauchen. Dazu muss ich an einer großen humanoiden, sich die Lippen leckenden Wurst vorbei. Früher hatte die Wurst noch Beine und Arme, und in ihren Händen hielt sie eine Senftube, mit der sie sich selbst würzte. Inzwischen hat man ihr Arme und Beine abgetreten. Als ich die Verkrüppelte passiere, glaube ich sie flüstern zu hören: „So habe ich mir die Unsterblichkeit nicht vorgestellt.“ JENS FRIEBE