WIR:HIER

Kapitel 9

Zwei Zigaretten später liefen Matteo und Laura auf der Suche nach einem Tunneleingang durch die Gegend. Sie versuchten, möglichst unauffällig zu wirken, als wären sie ein Liebespaar auf Abendspaziergang. Hinter dem Sportplatz, der an die Bahnhofsruine angrenzte, lag ein verwilderter Park. Auf einem Warnschild stand: „Gleiswildnis-Ungesichertes Gelände-Gefahr-Betreten verboten!“ Das hörte sich erfolgsversprechend an.

Sie schlugen sich in die Büsche. „Wonach konkret suchen wir jetzt?“, flüsterte Laura.

„Weiß ich auch nicht genau. Irgendeine Art von Luke. Das könnte ein alter Einstieg sein.“ Sie entdeckten: überwucherte Gleise, die nirgendwo hin führten, Backsteinhaufen um ein verfallenes Bahnhäuschen herum, Müll, Schottersteine, benutzte Kondome. Aber nichts, dass ein Zugang in den Untergrund sein könnte.

„Also hier ist nix. Wir müssen vielleicht da drüben suchen.“ Laura zeigte auf eine unbebaute Brache auf der anderen Straßenseite.

Matteo nickte. Ein Zaun sicherte das Eckgelände. In der Dunkelheit, die sich mittlerweile über die Stadt gesenkt hatte, starrten sie durch den Maschendraht. Weit konnten sie nicht sehen. Dichtgewachsene Ranken, Büsche und Bäume versperrten den Blick.

„Das sieht riesig aus. Was stand hier früher wohl?“ „Keine Ahnung. Wir können ja einmal drum herumlaufen.“

Es wurde eine große Runde um den ganzen Straßenblock. Zwischen den Hotels, Geschäften und Wohnhäusern lagen verbarrikadierte Baulücken, die den Blick auf das verwilderte Gebiet in der Mitte freigaben. Dann standen sie vor einem unbewohnten Haus. Wo früher die Eingangstür war, klaffte eine Baustelleneinfahrt.

Matteo und Laura schlichen in den Hof. Nach und nach verstanden sie das merkwürdige Durcheinander aus Häusern und Wildnis. Die Häuser, die zur Straße zeigten, verbargen einen gewaltigen zusammenhängenden Innenhof.

„Das war alles mal bebaut, eindeutig. Die Häuser drum herum haben sie stehengelassen, aber das ganze Innendings ist weg. Hier sind noch alte Mauerreste und da vorne ist die Ecke, an der wir vorhin von außen geguckt haben. Das sieht so aus, als wäre da eine Zufahrt gewesen. Man müsste das auf google-earth sehen, von oben, dann erkennt man es besser. Das war bestimmt ein Regierungsgebäude, oder? „

Laura zuckte die Schultern. „Hier sind Kameras. An Baustellen sind immer Kameras.“ Sie suchten die Hausfront ab.

„Quatsch, das ist einfach nur ein leeres Haus. Guck mal, die Tür da, die ist offen. Wir müssen in den Keller, da gibt es vielleicht noch einen Durchbruch zum Tunnel.“

Sie stiegen vorsichtig über Bauschutt durch die einen Spalt weit offene Metalltür und standen im Hausflur.

„Taschenlampe?“ Matteo flüsterte. Laura fummelte sie aus dem Rucksack und leuchtete auf Müll, Haufen aus alten Ziegelsteinen, aufgerissenen Tüten mit Zement und herausgerissenen Holzdielen. „Da lang geht es zum Keller.“ Auch Laura flüsterte unwillkürlich, während sie vorsichtig über die Trümmer stieg und Matteo ihr folgte.

Sie rüttelte an der Klinke und war erschrocken, was für einen Lärm das in dem stillen Gebäude machte. „Abgeschlossen.“

„Mist. Kannst du Schlösser knacken?“, fragte Matteo.

„Klar. Hast du eine Büroklammer und Tesafilm dabei?“ Er starrte sie an, bis sie sagte: „Witz, Alter. Bin ich MacGyver? Wir hätten Szusza mitnehmen sollen, die hat das sicher drauf.“

Matteo grinste. „Die hätte die Tür einfach aufgeboxt. Wir können uns trotzdem ein bisschen umgucken, oder?“

Sie kletterten über den Bauschutt vorsichtig die Treppe hoch. Teile des Geländers und einzelne Stufen fehlten, andere knarzten so laut, dass sie befürchteten, die ganze Treppe bräche in sich zusammen. Alle Wohnungstüren standen weit offen, sie leuchteten in die leeren Räume rein.

„Wer hier wohl gewohnt hat? Oder waren das Büros?“ In der Küche einer Wohnung stand ein alter Tisch, im dritten Stock lagen zwei schmutzige Schaumstoffmatratzen neben Bierdosen, Kippen und Zeitungen.

Die Tür zum Dachboden war herausgerissen, es stank furchtbar, als sie den Dachstuhl betraten. Die Holzdielen waren übersät mit Vogeldreck, und als Lauras Lampe zwei halbverweste Tauben anstrahlte, schrie sie unwillkürlich auf. „Igitt, ist das eklig. Hier holt man sich die Krätze.“ Sie versuchten, auf nichts Widerliches zu treten oder zu leuchten, bis sie vor einer Holzleiter standen, die aus Dach führte. Matteo stieg als Erster hoch und reichte Laura die Hand. „Geht schon.“ Sie hielten sich an einem gemauerten Kamin fest, bis sie sich sicherer fühlten und staunend ein paar Schritte in jede Richtung machten. Dann setzten sie sich auf die Dachpappe. Die nächtliche Stadt lag unter ihnen und sah großartig aus.

„Wow, ist das geil. Ich war noch nie auf einem Dach. Guck mal, da hinten fährt die Hochbahn.“

„Kann man das Rathaus Schöneberg sehen?“ Sie fanden den beleuchteten Turm auf der rechten Seite, ebenso wie die Stadtautobahn am Innsbrucker Platz. Matteo glaubte sogar den Neubaublock, in dem er wohnte, zu erkennen. „Abgefahren. Hier oben sollten wir mal ne Party starten. Oder ein Konzert.“

Sie legten sich auf den Rücken, rauchten und schauten in den Himmel. „Berlin ist zu hell für Sterne. Aber guck mal, ich hab eine Sterneapp.“ Laura hielt ihr Telefon in die Luft, kurz darauf erschien auf dem Display eine Himmelskarte. „Ist eher das Gegenteil von einem Tunnel, aber trotzdem hübsch, oder?“ Sie sah auf ihre Uhr und sprang auf. „Scheiße, es ist schon halb zwölf. Ich muss nach Hause. Du auch?“

„Das geht dich überhaupt nichts an“, blaffte Matteo.

„Hä, was ist denn jetzt los?“

„Nichts, geht dich eben nix an.“

„Reg dich ab. Ich hab doch nur gefragt.“

Die friedliche Stimmung von eben war vorbei.

Nach und nach verstanden sie das Durcheinander aus Häusern und Wildnis

■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist imVerbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigen Verlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de