ZWISCHEN DEN RILLEN: Freiheit, die sie meinen
Marilyn Crispell & Gerry Hemingway „Affinities“ ■ Sylvie Cour-voisier/Mark Feldman Quartet „Hôtel du Nord“ (beide Intakt Records)
Nach wie vor pflegt die Jazzkritik die Mär, Frauen würden anders Jazz spielen als ihre Musikerkollegen. Dabei lässt sich anhand zweier aktueller Alben nachhören, dass Jazzmusikerinnen nicht um Rollenzuweisungen buhlen, sondern ohne Weiteres die Früchte hervorragender Zusammenarbeit zum Klingen bringen.
Die Schweizer Pianistin Sylvie Courvoisier ging im Quartett mit ihrem Mann, dem Geiger Mark Feldman, dem Bassisten Thomas Morgan und dem Schlagzeuger Gerry Hemingway ins Studio. Die US-Pianistin Marilyn Crispell traf besagten Gerry Hemingway zum Duo auf der Bühne.
Gleiche Titelanzahl (je sieben), ähnliche Spieldauer (jeweils rund eine Stunde), derselbe Drummer und ein Schweizer Plattenlabel – sonst haben die beiden Alben keinerlei musikalische Gemeinsamkeiten. Der in New York lebenden Schweizerin Courvoisier hört man die Lust am Komponieren an. Der gut zwanzig Jahre älteren US-Amerikanerin Crispell die Erfahrung am lustvollen Experiment.
Auf „Affinities“ von Crispell und Hemingway ist jeder Ton improvisiert. Wie sehr sich die beiden nach einer längeren Phase getrennter Wege aufeinander einlassen, macht staunen bis zur Fassungslosigkeit. Weil seine Chemie ohne Zusatz von solistischen Kapriolen und Referenzen an die Jazzgeschichte auskommt, bewegt sich das Duo im Wirken physikalischer Kräfte frei. Und Freiheit bedeutet hier vor allem ein immenses Gespür für Zeit und Atem. Sowie für Ideen, die auf dem je eigenen Instrument zur Entfaltung kommen und unbeirrt den entwickelten Rhythmen folgen. Gleichzeitig wird das Gegenüber beständig belauscht und wird darauf reagiert, eine Art Schwebezustand zwischen Senden und Empfangen. Der Auftaktsong, „Shear Shift“, führt ein in den Wechsel von Tonhöhe und Anschlag, deutet an, dass sich die Musiker von Melodie und Rhythmus entfernen und das Geräuschhafte ihrer Instrumente hervorkehren.
Während Crispell in dem Stück „Axial Flows“ auf der waagerechten Klaviertastatur Akkorde aus der Höhe perlen lässt, wechselt Hemingway unmerklich zwischen Schlagzeug und Vibrafon, erzeugt einen Widerhall Crispells aus anderem Material.
Gegenseitige Durchdringungen von Gesten, sich entspinnenden Ideen und waghalsige Melodiemanöver sind in „Threadings“ und „Permeations“ zu vernehmen. „Air“ ist Hingebung an luftige Träume, denen Crispell romantisch versonnen die Stimmung kreiert. Zum Abschluss wirkt „Finis“, als seien lange nach Konzertende die Klänge selbst zurückgekehrt und bemächtigten sich der Instrumente, aufgelöst in Wind, Echo, Schallwellen und Geräuschen.
Der zeitgenössischen Musik sehr nahestehend, dringt das Quartett um Sylvie Courvoisier und Marc Feldman auf die Vereinbarkeit kompositorischer Dichte mit frei pulsierenden Entäußerungen der eigenen Spielfertigkeiten. Courvoisiers Stücke gelten der differenzierten Hervorhebung des Violinisten Feldman, der keine Dramatik scheut und Klavier, Bass und Schlagzeug ständig in Zwiegespräche zu verwickeln weiß. Ihr neues Album, „Hôtel du Nord“, lässt die Assoziation mit einem Kunstmärchen zu, in dem seltsame und anrührende Dinge geschehen.
In „Dunes“ mäandert eine Wanderdüne durch die Landschaft, einzelne Sandkörner rieseln, ein Sandsturm zieht herauf. Knarren von Holz, wie es gesägt wird und splittert, gerät dem Quartett mit „Little Mortise“ zum herausragenden Track. Zu verfolgen ist, wie Geige und Bass einen Masterplan schmieden, sodann Klavier und Schlagzeug einbinden in ihre Strategie. Gelungen ist die Verbindung von wiedererkennbaren Strukturen mit dem unvorhersehbaren Moment der Improvisation aber in allen Stücken. FRANZISKA BUHRE
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