Bald fliegen die ersten Steine

SZENARIO David Simon, Autor von „The Wire“, über die Zukunft amerikanischer Städte

Am 1. Mai 1886 fand auf dem Chicagoer Haymarket eine Arbeiterversammlung statt, die mit einem landesweiten Streik verbunden war. Die Teilnehmer demonstrierten für die Abschaffung des 12-Stunden-Tages und einer der prominentesten Redner war ein gebürtiger Hesse aus der Rhön: August Spieß, Anarchist, Sozialist und Herausgeber der Arbeiter-Zeitung. Die sich daraus entwickelnden Haymarket Riots sind ein Schlüsselereignis in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung, der später hingerichtete Spieß einer ihrer Helden – und Material für eine HBO-Fernsehserie, das findet zumindest Drehbuch- und Roman-Autor David Simon, dem der US-Pay-TV-Sender global rezipierte Serien wie „The Wire“, „Generation Kill“ und zuletzt „Treme“ verdankt.

Einen Auftritt vergangenen Mittwoch im New Yorker „Guggenheim Lab“, einer temporären Einrichtung in der Lower East Side, die sich irgendwo zwischen Kunstgalerie und Think Tank mit Fragen der Urbanistik beschäftigt, nutzte Simon aber nur nachrangig, um neue Projekte vorzustellen. Geladen als Experte für Gegenwart und Zukunft der amerikanischen Stadt, eröffnete Simon seinen frei und engagiert vorgetragenen Talk mit dem Hinweis, dass New York eigentlich keine solche mehr sei.

Vollgepumpt mit Wall-Street-Kapital, abgekoppelt von den zunehmend depravierten urbanen Räumen des restlichen Landes, kreise das kulturelle und finanzökonomische Zentrum der USA nur noch um sich selbst: eine (noch) privilegierte Insel, die nur den britischen Kulturtheoretiker Arnold Toynbee lesen müsste, um zu wissen, dass die Zeiten des „Empire“ gezählt sind. Die verheerenden postindustriellen Zustände in Detroit („literally a gothic city“), West Baltimore oder East St. Louis sind Simons Thema an diesem Abend, aber auch der völlig gescheiterte Antidrogenkrieg und die Privatisierung der Gefängnisse im US-Bundesstaat Maryland. Die hat beispielsweise dazu geführt, dass unter Arrest stehende Verdächtige eine Gebühr von 400 Dollar die Woche für ihre eigenen elektronischen Fußfesseln bezahlen müssen. Geld zurück gibt es übrigens auch bei Freispruch nicht.

Düster sind Simons Prognosen: Bald werden die ersten Steine in Städten wie Cleveland fliegen; ein Aufstand naht, der die recht gründlich betonierten Besitzverhältnisse vielleicht doch noch mal fundamental ins Wanken bringt.

Dass der Auftritt eines Starautors bei einer von einem deutschen Automobilkonzern gesponserten Kultureinrichtung seine eigenen Aporien mit sich bringt, ist Simon natürlich trotz aller politischen Emphase bewusst: „Warren Buffett hat recht, Leute wie wir müssten viel höher besteuert werden.“

SIMON ROTHÖHLER