Mein Jahr in der Zone

NEUANFÄNGE Vor einem Jahr bebte in Neuseeland die Erde – und dann immer wieder. Unsere Autorin erzählt, wie das Leben danach trotzdem weitergeht

■ 47, kann über ihr Leben in Neuseeland auch lachen. Zwei Tage nach dem Februar-Beben erschien ihr Buch „Was scheren mich die Schafe“. Eine Realsatire über ihr Leben als Deutsche unter Neuseeländern. Foto: Ryan Larraman

AUS CHRISTCHURCH ANKE RICHTER

Lass mich mal lieber dort sitzen“, sagt Nilgün. Sie wechselt den Stuhl im Café und sieht gleich entspannter aus. „Ich muss den Ausgang im Blick haben. Rausrennen können.“ Nilgün Kulpe sah ich das letzte Mal in den Nachrichten. Die liefen damals pausenlos. Irgendwann habe ich den Fernseher abgestellt, um ein bisschen heile Welt im Haus zu schaffen, auch wenn dieses Haus plötzlich Risse und Löcher hatte, wie nach einem Bombenanschlag aussah und alle paar Stunden von Nachbeben erzitterte.

Wir treffen uns auf unseren ersten Kaffee seit jenem schwarzen Dienstag. Das war der Tag, der wie ein Messer durch unser Leben fuhr und es um neun Minuten vor eins in ein Vorher und Nachher teilte. Bei Nilgün Kulpe, 54, war es eher eine Kettensäge, die tiefe Wunden riss. Die deutsche Freundin überlebte das Erdbeben, das Christchurch am 22. Februar 2011 halb zerstörte, wie durch ein Wunder. Ich war nur ein Stadtviertel von ihr entfernt und kann mir dennoch kaum vorstellen, was sie an jenem Mittag durchgemacht hat.

Wunder. Wie kitschig das klingt. Aber wie soll man es sonst nennen, wenn man mitsamt der fünften Etage eines Bürohochhauses wie in einem kaputten Fahrstuhl nach unten stürzt, inmitten von Staubwolken und tosendem Lärm, dann verzweifelt aus einem Loch im Schutt schreit, während kilometerweit Chaos und Inferno herrschen, und man schließlich mit nichts als ein paar Schrammen am Körper gerettet wird – von „menschlichen Engeln“, wie Nilgün sie nennt? Auch das klingt jetzt nicht mehr kitschig. 182 Menschen starben; 116 davon neben, über und unter ihr. Von dem Gebäude stand nur noch eine Wand. Jetzt steht dort gar nichts mehr. Vielleicht aber bald ein Denkmal.

Nilgün trägt ein buntes Tuch um den Hals und wirkt wie früher. Wir sparen uns den üblichen Smalltalk dieser Tage. Statt „Wie geht’s?“ lautet die neue Begrüßungsfloskel: „Wie sieht dein Haus aus?“ Passender wäre die Frage, wie es in unserem Innern aussieht. Kein Mensch in und um Christchurch ist mehr genauso wie vorher, auch wenn nur wenige die furchtbarste Katastrophe in diesem Land so dramatisch erlebt haben wie die ehemalige Hamburgerin, die seit 26 Jahren in Neuseeland lebt. Als sich die Erde aufbäumte, mit der höchsten bisher auf der Welt gemessenen vertikalen Beschleunigung, da kauerten die meisten so wie ich irgendwo unter einem Tisch, rannten durch Straßen, die aufrissen und zu Schlammkratern wurden, oder umklammerten das Lenkrad im hin- und herschleudernden Auto.

Jeder hat seine Geschichte – wo man war, wie es war. Es gibt die tragischen Fälle, so wie die junge Frau, die bis heute ohne Unterleib und nach etlichen Operationen im Krankenhaus liegt. Oder das Baby, das während des ersten Bebens am 4. September 2010 geboren wurde und am 22. Februar von einem umfallenden Fernseher erschlagen wurde. Die bizarren, wie von der Kundin im Kosmetiksalon, die mit nur zur Hälfte gewachstem Schamhaar vor die Tür flüchtete. Doch, über so etwas lachen wir. Und dann die ganz normalen Schicksale: wochenlang kein Strom, kein Wasser, Garten und Straße ein einziger Sumpf aus Schlamm und Kloake, die Zukunft ungewiss, die Arbeitsstelle weg, das Haus irreparabel.

Als die Erde zum Ungeheuer wurde und die sichere Zivilisation der schönen Gartenstadt auf den Kopf stellte, beherrschte unser Drama kurz die Weltnachrichten. Dann kam Japan. Doch unser eigentliches Drama ist alles, was seitdem anders geworden ist und noch lange nicht vorbei. Es gibt keine Unterhaltung, keine Zeitung, keinen Tag in Christchurch ohne dieses Thema. Nur nennen wir es nicht mehr „Drama“, sondern „neue Normalität“.

Normal ist, dass man seine Kinder morgens nicht nur mit Schulbroten, sondern aufgeladenen Handys aus der Tür schickt. Dass diese Kinder nicht mehr allein einschlafen können. Dass man nicht mehr Rad fährt, surft oder in den Hügeln wandert, weil die Passstraßen gesperrt sind, Felsbrocken herabstürzen können und ins Meer noch immer Abwasser läuft. Dass man kaum Geschirr hat. Dass man nicht mehr weiß, wo eine Bank geöffnet hat oder man Schuhe kaufen kann. Dass neue Schuhe eigentlich egal sind, da der vorherrschende Modestil Bauarbeiterkluft ist. Normal ist, dass innerhalb von Minuten alles schon wieder komplett anders sein kann – aber vielleicht erst in einem Monat. Es ist eine schizophrene Realität. Manche kommen damit klar. Andere brechen alles ab, ziehen weg. Unser Freundeskreis ist geschrumpft.

Nilgün ist Therapeutin, zupackend und lebensfroh. Sie arbeitet wieder, diesmal in einer einstöckigen Praxis. „Nie mehr in einem Hochhaus!“ Eigentlich ging es ihr schon seit Wochen besser. Sie hat getrauert und sich zurückgezogen. Sie ist stundenlang spazieren gegangen, um das Gefühl für den sicheren Erdboden unter ihren Füßen zurückzubekommen. Sie schläft nachts nicht mehr im Campingbus, sondern wieder zwischen Wänden. Sie liebt ihr Leben, ihre Familie mehr denn je. Und diese kaputte Stadt. Trotz Todesnähe und Trauma hat sie etwas erlebt, was sie nicht missen möchte: „Die euphorische Aufbruchstimmung – ‚wir packen das alle gemeinsam‘. Solch eine Hilfsbereitschaft, so viel Menschlichkeit. Wo findet man das sonst?“

Flüchten war selbst für uns Eingewanderte keine Alternative – wir brauchen den Kontakt zu denen, die das Gleiche durchgemacht haben. Nachbarn, die die Reste aus den auftauenden Kühltruhen gemeinsam grillten, Farmer, die hunderte Kilometer weit auf ihren Traktoren angefahren kamen, um Ziegelsteine abzutragen – wir alle, obwohl verstört, gerädert und verändert, waren auf einem Survivor-High.

Aber am 13. Juni ist die Angst zurückgekehrt. An jenem Montag erlebten wir nach tausenden von kleinen Nachbeben unser drittes schweres Beben. Wieder mittags, und wieder war es eine brutale Zäsur. Die Zerstörung, das Chaos, der Schock waren diesmal nicht so groß, es gab zum Glück auch keine Toten – ähnlich wie beim ersten Erdbeben im September 2010. Doch die psychische Zerrüttung war anders. Demoralisierend. Vor einem Gemeindezentrum, das stets die Anlaufstelle für Helfer wie Hilfesuchende war, wo es Suppe gab, die Leute sangen und erzählten und sich Halt gaben, da stand diesmal nur ein Schild: „Kein Wasser, kein Strom, keine Volunteers. Geht nach Hause und passt aufeinander auf.“ Den neuen, unspektakulären Grad an Hoffnungslosigkeit hielten keine internationalen Fernsehkameras mehr fest. Zerstörung lässt sich besser filmen als Zermürbung.

Christchurch fühlte sich wie ein Krebspatient, der sich monatelang durch die Chemotherapie quält und dann die Diagnose erhält: War alles umsonst, der Tumor ist zurück. Kurz nach dem Juni-Beben schnappten mein Mann und ich uns Schaufeln und fuhren in den Vorort, der zum dritten Mal im sandigen Schlamm versankt. Wir schippten die zähe Pampe aus dem Hinterhof einer samoanischen Großfamilie, trugen aufgeweichte Kisten aus einer Garage, wurden mit Tee versorgt und fühlten uns danach besser.

Flucht war kein Thema. Wir brauchen den Kontakt zu denen, die das Gleiche durchgemacht haben

Doch Nilgün Kulpe hat viele Klienten, „die können jetzt einfach nicht mehr“. Beziehungen zerbrechen, die häusliche Gewalt ist rapide gestiegen. Der Konsum von Alkohol und Beruhigungsmitteln ebenso. Und von Viagra. Rund um die „rote Zone“, der noch immer abgeriegelten Ruinenlandschaft der Innenstadt, blühte die Prostitution. Was nicht nur an den vielen Rettungstrupps aus aller Welt lag, sondern daran, dass wohl selten in dieser Stadt so intensiv geliebt, gelebt, gefühlt wurde wie nach dem Schock im Februar. Nur der Moment zählte. Er könnte ja der letzte sein. Nilgün fasst es poetischer zusammen: „Die Mauern brachen nieder und die Herzen brachen auf.“

Im Hafenvorort Lyttelton wurden diese Herzen zum Symbol. Dort, wo im Februar das Epizentrum des Bebens war und jetzt mehr als die Hälfte der historischen Backsteinhäuser auf der Hauptstraße fehlen, setzte sich jeden Tag eine Gruppe von Frauen hin und stichelte aus alten Wolldecken und Knöpfen bunte Herzen. Sie hingen an den Drahtzäunen der Absperrungen, an der Brust von Seeleuten, und selbst der Dalai Lama bekam eines angesteckt, als er auf Beileidsbesuch kam. Ich lege Nilgün solch ein Herz neben die Tasse. Sie fliegt am nächsten Tag ab – acht Monate Weltreise. Ein lange aufgeschobener Wunsch, jetzt dringender denn je. „Materielles ist komplett unwichtig geworden.“ Sie lacht. „Oder es geht eh kaputt.“

Statt auf Reisen begebe ich mich erstmals wieder auf einen Shoppingtrip. Neues Geschirr kaufen: Müslischalen aus Bambus, Becher aus Melamin. Alles bruchsicher. Aber Einkaufen hat jeden Reiz verloren. Wichtiger ist, improvisieren zu können, zum Beispiel mit einem Plumpsklo im Garten. Wasser sparen lernen. Wir sind alle grüner geworden.

Statt ins Kino gehen wir zu den öffentlichen Versammlungen, wo mit Städteplanern beratschlagt wird, wie das wiederaufgebaute Christchurch aussehen soll. Wein gibt’s danach auf der Straße. Lytteltons Künstler- und Kneipenviertel lebt im Untergrund weiter, auch ohne Bars und Cafés. Heute Abend sitze ich in einer Vorstellung von „Macbeth“ – aufgeführt im Freien, im Schutt unseres früheren Lieblingsrestaurants.

Und am 4. September feiern wir das erste Jahr in einer Erdbebenzone mit einem Weltrekord: Rund um Christchurch gibt es die größte Massenumarmung. Es wird garantiert großartig. Solange es nicht bebt.