Menschen wollen auch nach 22 Uhr singen

TORSTRASSENFEST Nach Vorbild des Londoner Festivals „Camden Crawl“ organisierten viele Clubs und Ladenbesitzer tagsüber ein Fest gegen Gentrifizierung. Nach der Wende zentrale Ausgehmeile kämpft die Subkultur in Mitte ums Überleben

„Wir wollen den Familien, die hier in der Gegend wohnen, die Chance geben, die Clubs einmal von innen anzusehen und sich dort zu amüsieren“

VON LUKAS DUBRO

Es ist ein Uhr mittags, als die Berliner Krautrock-Band Camera die kleine Bühne im Kaffee Burger entert. „Guten Morgen!“, grüßt ein sichtlich amüsierter Will Carruthers die ersten BesucherInnen. „Normalerweise hänge ich hier nur nachts oder früh morgens rum. Es ist eigenartig mitten am Tag hier zu sein“, erklärt der englische Sänger, der das Trio an diesem Tag zum ersten Mal am Mikrofon unterstützt. Mit seiner Feststellung bringt Carruthers das Konzept des ersten Torstraßenfestivals auf den Punkt, bei dem die Band am vergangenen Samstag ein mitreißendes Live-Set spielte.

Nach Vorbild des Londoner Festivals „Camden Crawl“ machten die KonzertveranstalterInnen Melissa Perales, Andrea Goetzke und Andreas Gebhard Orte tagsüber zugänglich, die sonst nur zu später Stunde geöffnet sind. „Wir wollen den Familien, die hier in der Gegend wohnen, die Chance geben, die Clubs einmal von innen anzusehen und sich dort zu amüsieren“, sagt Perales. An dem Festival beteiligten sich neben dem Kaffee Burger unter anderem Schokoladen, Grüner Salon oder CCCP. Sogar die Gaststätte Sankt Oberholz hatte eine Bühne aufgebaut, auf der die israelischen Freak-Folk-Sängerin Mary Ocher und der Schweizer Barde Dagobert ihre Lieder und Balladen zum Besten gaben.

Schöne neue Pastellfarben

Den VeranstalterInnen ging es gar nicht so sehr um Politik. Doch Zeit und Ort ließen nicht zu, dass diese außen vor blieb. In knapp zwei Wochen sind die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und die exorbitanten Mietpreissteigerungen in der Innenstadt gehört zu den Top-Themen. Und an der Gegend um die Torstraße lässt sich eindrucksvoll zeigen, was sich hinter dem Schlagwort neoliberale Stadtumstrukturierung aka Gentrifizierung verbirgt: Die Anwohnerschaft tauscht sich wegen der steigenden Mieten immer stärker aus. Die ehemals grauen Häuserfassaden sind inzwischen in die typischen Pastellfarben getaucht, die zum Sinnbild für den Teuerungsprozess avanciert sind.

Die Veränderungen im Kiez hinterließen auch in der Kulturszene ihre Spuren. Vor allem die permanenten Beschwerden der neuen NachbarInnen über die laute Musik machen den Clubs zu schaffen. Der ohnehin schon räumungsbedrohte Schokoladen zog deshalb vor kurzem Konsequenzen: Um weiteren Problemen mit der Polizei aus dem Weg zu gehen, fangen die Konzerte jetzt schon um acht abends an und enden pünktlich um zehn. Eine Zeit, zu der das Zielpublikum noch am Abendbrottisch sitzt und sich herausputzt für die Nacht.

„Für uns haben die neuen Öffnungszeiten negative wirtschaftliche Auswirkungen“, sagt Perales, die seit 2004 Events im Schokoladen organisiert. Sie sind nicht die einzigen, die sich anpassen mussten. Die Konzerte im Roten Salon laufen auf Zimmerlautstärke. Und das CCCP musste bereits umziehen, weil das Gebäude, in dem sich der Club früher befand, vom Eigentümer abgerissen wurde. Die Läden kämpfen also um ihr Überleben. Wie lange sie weitermachen können, ist ungewiss.

Dieser Situation konnten sich auch die OrganisatorInnen des Torstraßenfests nicht verschließen. Alte Strukturen werden zugunsten von neuen abgelöst. „Der rohe Charme der Wendezeit und auch der ersten Jahre des neuen Jahrzehnts weicht immer mehr dem Nerd-bio-chic-Zeitgeist“, hieß es auf der Facebook-Seite des Events. Entsprechend lautete die politische Botschaft: „Die alteingesessenen kulturellen Veranstaltungsräume sind für einen attraktiven Stadtkiez unverzichtbar. Die Torstraße braucht uns“, appelliert Goetzke.

Wieso das tatsächlich so sein könnte, zeigte sich am Samstag. Da bot das Festival nicht nur lokalen Underground-Bands eine Bühne, sondern sorgte auch dafür, dass junge Leute in die Torstraße kamen. Diese verirrten sich zuletzt immer seltener in die Gegend. Zu weit sind die Wege aus Vierteln wie Neukölln oder Kreuzberg, in der viele Studierende leben und die ebenfalls über ein attraktives Kultur-Angebot verfügen. Müssten die Clubs schließen, wäre der Torstraßen-Kiez eine weitere hochsanierte Einöde. Und noch etwas wurde am Samstag deutlich: Indem alteingesessene Veranstaltungsräume gemeinsam mit neuangesiedelten Geschäften wie der Skater-Boutique „Primitive“ und das Bekleidungsgeschäft „Superficial“ ein Festival organisierten, zeigten sie, dass es durchaus möglich ist Altes und Neues in einem Kiez miteinander in Einklang zu bringen. Mehr noch wäre die Party ohne die DJ-Sets vor den beiden Läden nur halb so lustig gewesen. Das ist äußerst politisch. Vielleicht kommt diese Message ja auch irgendwann im Roten Rathaus an. Es wird Zeit, dass sie sich dem Problem stellt.