DIE ACHSE DER AMBIENTÖSEN (UN)RUHE VON ARNO RAFFEINER
Patina vergilbt

Vieles, was unter dem Begriff „Ambient“ in die Electronica-Fächer der Plattenläden einsortiert wird, funktioniert nicht als reine Klangtapete zur Entspannung. In tieferen Sound-Schichten brodelt und wuselt es oft gewaltig – dann, wenn es um gute Ambient-Musik geht. Die bisherigen EP-Veröffentlichungen des US-Amerikaners Huntley Miller alias Cepia zum Beispiel werden im A-Fach abgelegt – obwohl er eine mit Beats, Popstrukturen und einem charakteristischen Widerspiel aus Ruhe und Hektik aufgeladene elektronische Musik macht. Sein Plattenlabel versucht sich mit dem mysteriösen Kürzel SMM (Sensual Machine Music? Stately Modern Melodies?) an einer neuen Genre-Bezeichnung. Auf Cepias erster LP, „Natura Morta“, verstrahlen auf jeden Fall Reste der sogenannten Intelligent Dance Music eine majestätische Aura. Knistern, Wabern und Wummern werden von harmonischer Watte und Weichzeichner-Beats in die zuckersüße Popwelt eingemeindet. Dabei wirken die Texturen von Millers Stücken tatsächlich so, als wären sie in Sepia getaucht worden. Diese Computermusik klingt vergilbt und hat in endlosen digitalen Kreisläufen eine dicke Schicht Patina angesetzt, an die es sich behaglich anschmiegen lässt.

Cepia: „Natura Morta“ (Ghostly International/Rough Trade)

Wohlgefühl zersplittert

Die erste Minute lang ist kaum etwas zu hören. Weit entfernt verliert sich in den Tiefen der Hallräume ein einsames Rauschen. Eine trügerische Ruhe: Gerade weil die zwei epischen Stücke „Cello Recycling | Cello Drowning“, die das Album von Aaron Martin & Machinefabriek ausmachen, so nah an der Grenze zum Verschwinden gebaut sind, müssen sie extrem laut gehört werden. Erst dann entfalten sie ihre Wucht, ihre massiv beunruhigende Wirkung, ihr an- und abschwellendes Dröhnen. Das ästhetische Programm des Amerikaners und des Niederländers folgt der Schule der Elektroakustik wie aus dem Lehrbuch. Martins Cello-Spiel wird von der „Machinefabriek“ Rutger Zuydervelt im Rechner verfremdet, collagiert und ineinander geblendet, bis im mäandernden Maelstrom der Sounds die eigentlichen Klangquelle nicht mehr auszumachen ist.

Das Resultat dieser Operationen klingt in den Höhen so scharfkantig und wummert untenrum so bedrohlich, dass jedes Wohlgefühl zersplittert. Durch das Recyceln und Ertränken ihres Materials im steten Klangfluss machen Aaron Martin & Machinefabriek das Gegenteil von ambienter Hintergrundberieselung.

Aaron Martin & Machinefabriek: „Cello Recycling | Cello Drowning“ (Type Records/Hausmusik)

Schwermut getanzt

Das Live-Album ist eigentlich kein Format für Techno. Genauso selten verirrt sich elektronische Tanzmusik in eine Kirche. Dem Heidelberger Produzenten David Moufang alias Move D hat insofern mit „10/11 – Live At Johanneskirche“ gleich für eine doppelte Seltenheit gesorgt. Und ganz nebenbei hat er in diesem außergewöhnlichen Setting die spezifische (Un)Ruhe von spannendem Ambient mit der ruhigsten vorstellbaren House Music verschaltet. Das Sakrale und ungewohnt Traurige dieser 14 Stücke erklärt sich auch aus dem Zeitpunkt der Aufnahme: Das Album dokumentiert einen Auftritt Move Ds in einer Düsseldorfer Kirche am 11. 10. 2001, einen Monat nach den Terroranschlägen von 9/11. Der Mitschnitt scheint von einer Atmosphäre zeitloser Melancholie gebannt zu sein, die unter dem Diktat der 4/4-Bassdrum sonst kaum zu finden ist. Die vom Club formatierten Grooves werden entschleunigt und besänftigt. Höhepunkte entstehen nicht durch Breaks und krasse Effekte, sondern durch das Gänsehaut erzeugende Herabrieseln von harmonischem Glitzer. Je tiefer einen diese Melodien hineinziehen, desto erstaunter stellt man fest, wie beglückend Musik gewordene Schwermut wirken kann.

Move D: „10/11 – Live At Johanneskirche“ (Binemusic/Kompakt, A-Musik)