Mao Tse-tung lesen

Unschärfe als Erkenntnismittel: Mit dem Zyklus „Des Künstlers Jugendzeit“ versucht der chinesische Maler Li Luming im Umgang mit der Geschichte eine neue Tür zu öffnen. Zu sehen bei Alexander Ochs

VON SUSANNE MESSMER

Der erste Gedanke vor den Bildern von Li Luming ist: Vor kurzem meldete die New York Times, in Schanghai sei ein neues Geschichtsbuch für den Schulunterricht vorgestellt worden. Mao Tse-tung werde nur noch nebenbei erwähnt, der Sozialismus in einem kurzen Kapitel gestreift, der chinesische Kommunismus vor den Wirtschaftsreformen 1979 in einem Satz. Stattdessen gebe es ganze Kapitel über die industrielle Revolution, neue Technologien und Globalisierung, Bill Gates und die Börse.

Über die chinesische Kulturrevolution von 1964 bis 1977 wird heute in China nur sehr selten gesprochen. Deshalb ist das Erstaunen umso größer, wenn man die Ausstellung „Des Künstlers Jugendzeit“ von Li Luming in der Galerie Alexander Ochs betritt. Strahlende Mädchen in Arbeitskluft oder Uniform, die Hände in den Hüften, den Blick immer aufwärts. Ein vergnügter Soldat mit Tauben, eine glückliche Bäuerin bei der Ernte: hundertmal gesehen und trotzdem neu.

Es sind alte gefundene Fotos und Fotos aus dem Familienalbum, die der Maler für seine großformatigen monochromen Ölbilder als Vorlage genommen hat. Wie durch dickes Milchglas gesehen, beginnen die realistischen Figuren zu verwischen und flirrend zu verschwimmen, je länger man sie betrachtet. Sie wirken wie aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissen.

Versinken sie im Nebel des Vergessens? Das Gegenteil ist der Fall: Hier schärft Nebel die Sinne. Wie romantische, verklärte und unheimlich schöne Traumgebilde oder Trugbilder wirken diese Bilder. Je vergeblicher man versucht, sie zu fokussieren, desto mehr meint man, in den Gesichtern jene individuelle Geschichten zu entdecken, die einem auf den Fotos und Propagandaplakaten aus der Zeit der Kulturrevolution immer verborgen geblieben waren. Die Menschen sind nicht mehr bloß heldenhafte Schablonen, sie erzählen auch von Arbeit und Leben, Anstrengung und privatem Glück. Die kollektive Erinnerung tritt hinter der individuellen zurück. Das Mädchen mit dem Strohhut „Xiao Gao in 1972“ blickt selbstbewusst, aber auch skeptisch. Die jungen Frauen des „Hua Rong Educated Youth Teams“ wirken nicht nur enthusiastisch, sondern auch abgekämpft.

Li Luming ist während der Kulturrevolution aufgewachsen und berichtet in Interviews oft davon, wie sein Vater denunziert wurde und er, nachdem er durch die Straßen geführt und gedemütigt wurde, seine Eselskappe ordentlich faltete, damit sie noch einmal benutzt werden konnte. Der Maler erinnert sich auch daran, wie er sich, nachdem alle Schulen im Land geschlossen worden waren, allein beschäftigen musste und begann, Seidenraupen zu züchten und Gemüse zu pflanzen.

Seine Bilder mögen westliche Betrachter an Gerhard Richters „Baader-Meinhof“-Zyklus erinnern, sie beziehen sich aber auf die vor allem im Ausland erfolgreiche chinesische Schule der zynischen Realisten in den Neunzigerjahren. Wie seine Kollegen Fang Lijun oder Yue Minjun spielte auch Li Luming damals gern ironisch mit propagandistischen Symbolen – vor allem, um die schwer wiegende Geschichte so kurz nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 zu entschärfen.

Doch nach und nach begann Li Luming, sich mit diesem künstlerischen Ansatz, der sich oft im Mokieren erschöpft, zu langweilen. Im Jahr 2000 ließ er Künstler in ganz China in Bars, Restaurants, Buchläden, Kopierläden und Versammlungsräumen die Werke Mao Tse-tungs lesen und kam zu dem Ergebnis, dass die Reaktionen der meisten sehr viel komplexer waren, als sie es in ihrer Kunst ausdrückten. Er begann, sich wieder ernsthaft mit der Vergangenheit Chinas auseinanderzusetzen. Er sagt: „Die Kulturrevolution gehört zu unserem geschichtlichen und geistigen Erbe. Es ist zu kurz gegriffen, sie einfach abzutun.“ Abtun ist tatsächlich nicht die Sache Li Lumings. Seine Methode erinnert eher an Abrücken: Und in der neu gewonnenen Unschärfe entdeckt er dann nie Gesehenes.

Galerie Alexander Ochs, Sophienstr. 21, bis 15. September, Di.–Fr. 10–18 Uhr, Sa. 11–18 Uhr