Langweiler mögen’s nackt

Der australische Oppositionsführer Kevin Rudd hat vor vier Jahren einen Stripclub besucht – wie andere auch

Schon äußerlich wirkt er unschuldig: hellblonde, seitengescheitelte Haare, eine Brille aus den Siebzigerjahren. Kevin Rudd erinnert an den Jungen in der vierten Klasse, der in der vordersten Reihe saß und dessen einziger Freund der Taschenrechner war. Hinzu kommt, dass er sich offen zum christlichen Glauben bekennt, Familienwerte hochhält, nach eigenen Angaben kaum Alkohol trinkt und ein aufgeräumtes Pult und saubere Schuhe für ebenso wichtig hält wie eine gute Schulbildung.

Und dieser Langweiler soll vor vier Jahren in einem Stripclub in New York gewesen und im Suff rausgeworfen worden sein? Das meldete eine australische Boulevardzeitung. Rudd tat darauf, was er seit Beginn des Wahlkampfes immer tut: Er gab alles zu. Ja, er sei im Stripclub gewesen, und ja, er sei betrunken gewesen – so betrunken, dass er sich nicht einmal mehr an die nackten Frauen erinnern konnte. Am nächsten Tag habe er getan, was jeder gute Ehemann tut: Er entschuldigte sich bei seiner Frau. Die vergab ihm.

Seit der Veröffentlichung überschlagen sich die Spekulationen, ob der „heilige Kevin“ mit dem Ausrutscher wohl seine Chance verpasst hat, Premierminister zu werden. Bisher sah es gut aus. Seit Monaten deutet alles darauf hin, dass der Labor-Politiker den konservativen Ministerpräsidenten John Howard nach elf Jahren an der Macht vom Sessel stoßen wird. Kein Oppositionsführer hatte es in den letzten Jahren so weit geschafft. Rudds Trick: Er weicht jeder Konfrontation aus, zeigt sich selbst bei schweren Angriffen freundlich, offen und ehrlich. Das pure Gegenteil von Howard, den eine Mehrheit der Wähler laut Umfragen als „hinterlistig“ empfinden; oder von anderen Regierungsmitgliedern wie Außenminister Alexander Downer, die – wäre das Parlament ein Pausenhof – wegen ihres rüpelhaften Verhaltens schon längst von der Schule geflogen wären.

Erst die nächste Meinungsumfrage wird zeigen, ob der Striptease-Besuch ein Gang ins Fegefeuer wurde. Erste Reaktionen deuten aber in die andere Richtung. Ein Politiker nach dem andern gesteht, er habe auch schon nackte Stripperinnen bestaunt. Sogar Howards Verteidigungsminister gab eine solche „Sünde“ zu. Am Montag dann die Absolution der christlichen Lobby, die in Australien immer einflussreicher wird: Er glaube nicht, dass der Skandal Rudd viele Stimmen kosten werde, so Sprecher Jim Wallace, denn „jeder macht Fehler“. Fast scheint es, der Skandal entwickele sich für Rudd zu politischem Kapital. Im Rundfunk herrschte am Montag klar die Meinung vor, die Nacht in New York beweise, er sei eben auch nur ein Mensch. Wie ein Anrufer beschwichtigend sagte: „Mir ist egal, wie viel er trinkt, solange er wichtige Entscheidungen nicht im Totalsuff trifft.“ URS WÄLTERLIN