Immer wieder Wembley

Beim Freundschaftsspiel England gegen Deutschland heute Abend (ARD, 20.15 Uhr) treten nur die B-Mannschaften an. Dennoch geht es um alles. Warum der Wembley-Mythos nicht totzukriegen ist

VON JAN FEDDERSEN

Zwei Schulkinder irgendwo in der Bundesrepublik beim Schulanfang, es ist Montag, der 15. August 1966. Der Junge sagt: „Hast du das Endspiel gesehen?“ Das Mädchen, cool: „Klar, mein Vater hat viel Bier getrunken.“ Er: „Wir haben echt blöde verloren.“ Das Mädchen, aufgebracht: „Haben wir nicht. Das dritte Tor für die Engländer war keines.“ Der Junge, nicht weniger erregt: „Wenn schon. Ohne das dritte Tor hätte England auch gewonnen.“ Das Mädchen, ihrerseits letztinstanzlich: „Quatsch. Mein Vater hat gesagt, dann hätten wir gewonnen.“ Mauliges Schweigen für den Rest des Schulwegs.

Dieses Märchen vom Weltmeisterschaftsfinale handelt von Männern, von Ungerechtigkeit, von Verschwörungen, von Nationen, die 21 Jahre zuvor noch Feinde im Weltkrieg waren, und von einem Ball, der in der 101. Minute dieses Finales am 30. Juli 1966 hinter die Linie des deutschen Torhüters Hans Tilkowski aufgeprallt sein soll. Und dieses Märchen bestimmte lange Zeit jedes folgende Spiel zwischen England und Deutschland – ob freundschaftlich oder nicht. Jene Sage, bei der der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst ebenso eine trottelige Rolle spielte wie der sowjetische Linienrichter Tofik Bachramow eine abgefeimte. Der Schuss des Engländer Geoffrey Hurst prallte an die Unterseite der Latte und floppte nach unten – die Tatsachenentscheidung erkannte das Tor an, spätere Zeitlupenaufnahmen sahen das Leder jedoch satt auf der Linie und nicht einen Millimeter dahinter.

An der Deutung dieser Partien entschieden sich nicht allein Kinderfreundschaften. Wochenlang hielten in in allen Teilen Deutschlands die Debatten an – und selbst Bundespräsident Heinrich Lübke, nicht gerade ein Politpopstar seiner Tage, zog sich mächtigen Unmut zu, als er beschied: „Der Ball war drin.“ Legendär seither die Bilder – vor allem jenes vom Stürmer Uwe Seeler, der gesenkten Hauptes vom Rasen des Wembleystadions schlich. Es ließ sich in der Bildermythologie jener Jahre auch so lesen: Auf dem Felde unbesiegt, nur die politische Korrektheit verbot revanchistische Gelüste.

Noch immer bestreiten TV- und Radiosender aus diesem Nachkriegsgebräu ihre Erinnerungsstückchen – und sie werden vom Publikum immer noch goutiert. Dass da zwei Teams auf dem Platz standen, die insgesamt nicht so klasse Fußball spielten, die auf gewisse Art zufällig ins Finale gerieten; dass England nie wieder so erfolgreich war, hat kein Gewicht in den Erzählungen über jenes Jahr und sein WM-Finale.

Wembley ist aber gewiss auch in England ein Mythos, dieses Stadion, das sich wie eine Urzelle des Fußballs ausnahm. Stets wird, wie vor diesem Länderspiel heute Abend, das die offizielle Eröffnung des neuen, modernen Wembleystadions symbolisiert, so getan, als seien beide Teams, das deutsche wie das englische, die wichtigsten des Fußballs überhaupt. Ein gern geglaubtes Missverständnis, ohnehin, vor allem wenn wie heute auf beiden Seiten nur die B-Mannschaften antreten. Aber ohne es ließe sich nicht von Mythen schreiben. Jedenfalls hat England gegen Deutschland meist verloren, oft auch bei wichtigen Spielen, 1:3 beispielsweise an gleicher Stelle 1972. Zwar hat England das letzte Spiel im Jahre 2001 mit 5:1 gewonnen, in München, aber das war ebenso wie das Spiel in der Neo-Wembley-Arena eines aus purem Selbstzweck, aus sogenannter Freundschaft, nicht, weil es irgendetwas bedeutete in puncto Qualifikation für ein Turnier.

Die relevanten Partien hat England allesamt vergeigt, 1970 bei der WM in Mexiko, bei der WM 1982, der von 1990 oder bei der Europameisterschaft 1996 in England selbst. „Im Prinzip kann jede Mannschaft gegen andere im Elfmeterschießen schlagen, es sei denn, England spielt gegen Deutschland“, erkannte Gary Lineker, berühmter Spieler der Engländer, einmal. Viermal stand er Deutschen in einem Länderspiel gegenüber, nur 1985 in Mexiko, bei einem Freundschaftsturnier, konnte er einmal gewinnen.

Wahrheitsgemäß muss gesagt werden, dass nur das Finale von 1966 das bittersüße Gift der Vergeblichkeit enthielt: Das nehmen Deutsche, die sich gern besonders verarmt, von Krisen bedroht und von Unheil verfolgt fühlen, besonders gern zu sich. In England selbst hat das Raunen und Reden über dieses Finale nur geringen Wallungswert. Sagte Geoffrey Hurst, der Torschütze jenes Linienrichter-beglaubtigten Treffers, später also: „Wir haben gewonnen. Der Schiedsrichter hat es beglaubigt. Wir sind Weltmeister geworden. Mehr ist nicht zu sagen.“