Moralische Inbrunst zügeln

betr.: „Neue Weisung für alte Regel“ von Christian Semler, „Befehl erhalten, Befehl verstanden“ von Wolfgang Gast, taz vom 13. 8. 07

dass in der taz zum thema schießbefehl sachlicheres und kenntnisreicheres verlautet als in anderen medien ist schön. es scheint genau das die verwirrung nur leider zu vergrößern!

was meint denn der begriff „schießbefehl“? das an der innerdeutschen grenze menschen von grenzsoldaten erschossen worden sind, ist wohl unbestritten. und den befehl dazu haben diese wohl bekommen. es ist beim militär so üblich, zwar kann man einen befehl verweigern, aber soldaten, selbst generäle agieren nicht nach lust und laune. irgendwie reicht dies aber scheinbar nicht aus, die unmenschlichkeit der ddr vorzuführen. es muss etwas besonderes geben. gesucht wird schließlich nicht nach dem offensichtlichen, sondern nach dem historischen beweis, dass an der grenze eine menschenjagd veranstaltet wurde.

und hier wird es verworren! denn wer das genauer nimmt liebe tazler, hätte jetzt ein paar fragen zu beantworten. warum hätten eingeschleuste stasileute einen extrabefehl gebraucht, wenn grenzsoldaten sowieso wild um sich schießen? in die grenztruppen wurden normale wehrpflichtige eingezogen. die hat man militärisch ausgebildet und bewaffnet, sie aber im unklaren gelassen, was sie mit der waffe anfangen sollten? so ein unfug!

das ganze problem rührt wohl daher, dass das wort „schießbefehl“ ein altes ideologisches sturmgeschütz aus zeiten des kalten krieges ist. den gesetzen und dienstanweisungen, die den waffeneinsatz der ddr-grenztruppen regelten, ist nicht zu trauen, weil sie nicht blutrünstig genug ausfallen! könnte ja jemand fragen, was passiert eigentlich, wenn ich heute in ein militärisch gesichertes objekt einzudringen suche? ich hoffe für uns alle, in eine waffenkammer der bundeswehr spaziert man nicht einfach hinein und nimmt sich, was man so gerade braucht. nein, aus dem grenzregime der ddr an sich, kann man schlecht die unmenschlichkeit ableiten. auch der bundesgrenzschutz war und ist bewaffnet und seine einsatzmaxime waren an der innerdeutschen grenze ebenfalls andere als z. b. in richtung belgien oder schweiz. und gleiches lässt sich wohl für die amerikanischen und englischen besatzungstruppen sowie weitere dienste behaupten. verwerflich waren die gepflogenheiten, nach denen die ausreise und die auswanderung, die sogenannte „ständige ausreise“ aus der ddr geregelt waren. sie haben letztlich dafür gesorgt, dass an der grenze leute auftauchten, die lediglich „rübermachen“ wollten. bis dahin unbescholten, begingen sie nun verrat am sozialismus und hatten aus sicht der herrschenden den umgang wie mit schwerstkriminellen oder feindlichen soldaten nur verdient. diese manie den ausgemachten verräter schlimmer als den ärgsten feind zu behandeln, zieht sich leider durch die geschichte der linken!

die debatte, was politisch dumm bis verbrecherisch, unmoralisch oder intellektuell unterirdisch war an der ddr, die lässt sich sicher gut an diesem thema führen, aber auch an vielen anderen. für meinen teil bezweifele ich aber stark, dass dies besonders fruchtbar wird, wenn dabei die alten ideologischen kampfbegriffe egal von welcher seite aus aufleben oder sogar die richtung für historische forschung vorgeben. wer es natürlich nicht genauer wissen will, wem es nur um die bestätigung seiner alten vorurteile geht, der kann freilich nicht anders.

zu guter letzt ein wort zur moral. wer menschenrechte und freiheit als kriterien zulässt, warum es unmoralisch ist, wenn ausreisebestimmungen menschen nötigen auf einen militärisch gesicherten zaun los zu gehen, die gefahr in kauf nehmend dabei erschossen zu werden, der möge sich die wirkung unserer einreisebestimmungen vergegenwärtigen. klar, erschossen wird heute nicht mehr. (das machen höchstens mal die amerikanischen hilfssheriffs am zaun zu mexiko) heute wird ersoffen auf dem weg in den golden westen, im ostatlantik, im mittelmeer oder in der oder, gelegentlich auch mal erstickt in einem lufthansaflugzeug, wenn es heißt: „gehe wieder auf los, ziehe keine 4.000 mark ein“. aber den unterschied zwischen einem deutschen, der keinen bock mehr auf sozialismus hat und einem schwarzen, der vor armut und hunger flieht, den kann mir herr pofalla sicher gut erklären. das macht die ddr nicht besser und die 133 mauertoten von 1968 bis 1989 nicht lebendig. aber es sollte die moralische inbrunst zügeln, mit der sich einige in die brust werfen.

INGO WITZMANN, Berlin