Alles gerät in Bewegung

Die französische Regisseurin Pascale Ferran hat die zweite Fassung von D. H. Lawrence’ Roman „Lady Chatterley“ verfilmt. Herausgekommen ist ein anrührender Liebesfilm, der sich Zeit lässt und feiert, wie zwei Körper zueinander finden

Wann war im Kino jemals ein Mann zu sehen, der sich verunsichert auf den Boden legt, damit seine Geliebte seinen Körper erforschen kann?

VON ANKE LEWEKE

„Die Geschichte des menschlichen Körpers müsste noch einmal mit Bildern neu erzählt werden. Und wie sich die Bilder in diese Körper gesenkt haben, das wäre auch noch einmal eine Geschichte für sich“, schreibt Jean-Luc Godard in einem Essay zu seinem Film „Rette sich wer kann (Das Leben)“.

Pascale Ferrans Verfilmung von D. H. Lawrence’ Roman „Lady Chatterley“ könnte man als Fortführung von Godards lose formulierten Gedanken sehen. Vorlage ist „John Thomas und Lady Jane“, die zweite von drei überarbeiteten Fassungen des Skandal auslösenden Buches, die erst in den Fünfzigerjahren veröffentlicht wurde. In der Revision ließ sich Lawrence wesentlich mehr Zeit bei der Beschreibung der Liebesszenen, die gerade durch ihre Offenheit an Präzision gewannen. Sie stehen auch im Zentrum von Pascale Ferrans Adaption.

Tatsächlich fängt dieser sehr schöne Liebesfilm bei null an.

Er lässt zwei Körper zu sich und zueinander finden, und er lässt sich viel Zeit dabei. Bis zur ersten richtigen Berührung der Liebenden dauert es eine Weile. Dennoch ist die Welt der jungen Lady aus reichem Haus (Marina Hands) und des Wildhüters Parkin (Jean-Louis Coulloc'h) schon seit der ersten Begegnung im Wandel begriffen. Diese Veränderungen ziehen in die immer heller und lichter werdenden Bilder von „Lady Chatterley“ ein. Alles gerät in Bewegung. Die Hände der Heldin, die Blätter der Bäume. Haare lösen sich aus strengen Frisuren, Blumenblätter bewegen sich im Wind, ein Eichhörnchen hüpft durchs Bild.

Zu Beginn ist noch Herbst. Braunes welkes Laub liegt auf der Einfahrt des abgelegenen Herrenhauses Wragby Hall. Eine junge Frau verabschiedet sich von einem Mann. Auffällig lange schaut sie dem abfahrenden Fahrzeug nach. Seltsam losgelöst scheint sie von ihrer Umgebung. Sie wirkt einsam. Später, nach einem Abendessen in Gesellschaft, ziehen sich die Männer zurück und reden über ihre Kriegserfahrungen. Die Kamera filmt nun die Frau durch die Tür, wie sie allein im Zimmer nebenan zurückbleibt. Es ist eine melancholische Einstellung, die das Gefühl ihres Eingesperrtseins verstärkt. Nun reden die Männer über die zerstörten Leiber, die sie im Krieg gesehen haben. Immer detaillierter, immer schrecklicher werden die Beschreibungen. Man spürt, dass die Frau die Gespräche am liebsten unterbinden würde. Denn auch der Körper ihres Ehemannes wurde im Krieg versehrt, Clifford (Hippolyte Giradot) ist querschnittsgelähmt.

Über fast zweieinhalb Stunden hinweg wird „Lady Chatterley“ an diesem angenehm konzentrierten Erzählrhythmus festhalten (die aus zwei Teilen bestehende Fernsehversion, die Ferran für Arte drehte, ist 200 Minuten lang). Nur wenige Szenen braucht die genau beobachtete Exposition, um den Betrachter in Connies Leben mitzunehmen. In einen Alltag zwischen dem Putzen des Tafelsilbers und teilnahmslosen Konversationen zur Teatime, zwischen Stickereien und einsamen Nächten im einsamen Bett. Geprägt ist Connies Verhältnis zum männlichen Körper durch Fürsorge und Pflege. Man sieht, wie sie Clifford mit einem Waschlappen reinigt. Auch wenn das Ritual behutsam und sorgfältig ausgeführt wird, ist jede Zärtlichkeit aus den Berührungen gewichen. Seine Lähmung ist auch auf ihren Körper übergegangen, hat das Dasein des Ehepaares und das Anwesen Wragby Hall ergriffen.

Davon, wie sich das Haus langsam wieder mit Leben füllt, wie etwa ein Strauß gepflückter Wiesenblumen ein Zimmer schmücken kann, erzählt „Lady Chatterley“. Beobachtungen vom Rande, impressionistische Eindrücke und unprätentiöse Naturaufnahmen fügen sich zu einer anderen Ordnung. Bei Georges Bataille heißt es, dass die Erotik die Bejahung des Lebens sei. Nichts anderes zeigen die Bilder von Ferran in aller Einfachheit und Klarheit. All das entspricht dem Geist der Vorlage: D. H. Lawrence schrieb gegen die Tabuisierung von Sexualität an, gegen den Puritanismus im England der Zwanzigerjahre. Der Roman „Lady Chatterley“ wollte Sexualität als selbstverständlichen Bestandteil menschlicher Beziehungen zeigen.

Im Film ist die Initiation eine Szene im Wald und ein Blick, der sich in weiteren Szenen und Blicken spiegeln wird: Es ist Frühjahr, die ersten Blumen tauchen im Grün der Wiese auf. Zu sehen ist: ein halbnackter Mann, der sich im Freien wäscht, eine Frau, die sich bei diesem Anblick plötzlich wieder selbst wahrnimmt und die sich wenig später selbst nackt im Spiegel betrachtet. Das mag banal klingen. Doch die Stärke des Films liegt darin, dass in den Liebesszenen gerade nicht gängige Kino-Codes von Lust und Sexualität dekonstruiert werden. „Lady Chatterley“ ist vielmehr der Versuch, die Körper und Körperteile von ihrem analytischen und konnotativen Ballast zu befreien. Ein Reset der Kinobilder des menschlichen Körpers setzt der Film in Gang.

Gemeinsam mit dem Betrachter gehen diese Körper auf Entdeckungsreise. Man muss sich nur anschauen, wie Ferran Connies Hände filmt. Vor der ersten Begegnung mit Parkin liegen sie noch leblos in ihrem Schoß. Mit einem kleinen Krug trinkt sie Wasser aus einer Waldquelle. Doch dann beginnt sie ihre Umgebung unmittelbarer wahrzunehmen. Sie jätet Unkraut und trinkt plötzlich auch das kalte frische Quellwasser mit bloßen Händen. Wenig später werden diese Hände auf den Innenseiten von Parkins Schenkeln liegen und sich vorsichtig weiter tasten. In dieser bewegenden Szene macht nicht die Kamera den Mann zum Objekt, sondern er sich selbst. Wann hat man im Kino jemals einen Mann gesehen, der sich verunsichert auf den Boden legt, damit die Geliebte seinen Körper erforschen kann?

Immer wieder sieht man sein Geschlechtsteil, ihren Schamansatz, doch Intimität erzeugt der Film durch die Wahrnehmung der Liebenden. Konsequent nimmt er in den Liebesszenen ihre Perspektive ein. Beim ersten Sex etwa zeigt die Kamera lange Connies Augen. Sie kommt nicht. Aber man sieht genau den Moment, in dem sie seine Lust in sich spürt, zulässt und ihre Augenlider nicht mehr nervös auf und ab zucken. Bei einer späteren Begegnung gibt Connie den Rhythmus vor und zum ersten Mal werden sich die beiden küssen. Es mag ein leidenschaftlicher Kuss sein, doch Pascale Ferran interessiert sich weniger für Lust und Affekt. Vielmehr geht es um Vertrauen, Nähe, Zärtlichkeit, die tatsächliche Berührungen erst möglich machen – vom verhaltenen Zeigen des entblößten Körpers bis zum ausgelassenen Nackt-Wettrennen auf einer Wiese im strömenden Regen. Ferran nimmt sich die Zeit, die es braucht, bis sich zwei Körper aufeinander einstellen. All die Liebesakte in „Lady Chatterley“ wirken wie kleine, in sich geschlossene Erzählungen.

Und dann gibt es die große Erzählung von Sex, Leben und Alltag. Ferran zeigt, wie Sexualität einen Menschen und seine Persönlichkeit verändert. Wenn Connie Parkins Hütte verlässt, werden ihre Schritte mit jedem Mal energischer und selbstsicherer. Schien sie am Anfang noch isoliert von ihrer Umgebung, nimmt sie diese jetzt umso klarer wahr. Sie erlebt Batailles Bejahung des Lebens, in vielerlei Hinsicht. Einmal besucht Connie Clifford in seiner Bergmine. Sie sitzt im Auto und wartet, betrachtet die Arbeiter mit ihren verrußten Gesichtern, die sich nach einer langen Schicht eine Zigarette gönnen. Weil sie ihren eigenen Körper spüren gelernt hat, blickt sie jetzt ganz anders auf die Arbeiter, kann deren Erschöpfung und Müdigkeit nachempfinden und ahnt, was es heißt, unter Tage zu arbeiten. Wenig später wird sie mit Clifford streiten, über Klassenunterschiede, über den Umgang mit Dienern, über die Utopie des Sozialismus.

Ferrans Bilder leugnen nicht, dass die Liebenden aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten kommen. Der Klassenunterschied scheint in den Körpern zu wohnen. Hier die feingliedrige Connie in ihren edlen Kleidern, da der bodenständige Parkin, der in Hemd und Krawatte auf die Jagd geht und dabei wie verkleidet wirkt. Herrin und Angestellter – das ist der Status der ersten Begegnungen. Wenn Connie zu Beginn den Schlüssel von Parkins Arbeitshütte fordert, um sich darin auszuruhen, dann handelt es sich um eine gedankenlose, feudalen Verletzung seiner Intimität.

„Die Bilder sind die Agenten der Entfremdung von Mann und Frau“, schreibt Godard weiter. In „Lady Chatterley“ werden die Bilder ohne auftrumpfende Geste von ihrem Agentendasein befreit. Sie erzählen immer noch von Klassenunterschieden, von der Fremdheit der Geschlechter, von Wahrnehmungen und Lebensrhythmen, aber sie kollaborieren nicht mit dieser Entfremdung. Auf einfache Weise erzählen sie eine uralte Geschichte an allen Vor-Bildern vorbei. Boy meets girl. Girl meets boy. Mann und Frau begegnen sich im Wald.

„Lady Chatterley“. Regie: Pascale Ferran. Mit Marina Hands, Jean-Louis Coulloc’h u. a., Frankreich/Belgien/ Großbritannien 2006, 168 Min. Der Film startet heute in Berlin, am 20. September in Stuttgart, am 4. Oktober in Frankfurt am Main und München, später auch in Hamburg