Im ABC-Schützen-Fieber
: Schultütenpackerinnen packen aus

Schultüten sind so etwas wie Wundertüten – kein Wunder, dass ihr Inhalt umstritten ist. Soll’s nun gesund sein oder klebrig-süß oder lehrreich oder ausgefallen? Und von wem soll man sich beraten lassen: Mutter, Tante, Oma oder dem Erstklässer selbst?

Was packt man in eine Schultüte? Kinderträume oder den Ernst des Lebens? Seit Wochen beschäftigt mich diese Frage. Denn das Kind meiner Schwester hat es lauthals und vor allen verkündet: „Die Schultüte bekomme ich von Bettina“ – meiner Freundin also. Klare Anweisungen gab es auch: Draußen müssen Dinos drauf sein. Und in der Tüte will er Playmo-Ritter finden.

Seit dieser Ansage des Kindes tobt ein Kulturkampf im erweiterten Familienkreis. Meine Schwester hat umgehend ihre Sicht auf die Dinge erklärt. Der Kleine brauche keine Ritter, er habe schon so viele. Ihr Sohn brauche eine neue Zahnbürste und einen Wecker mit Zifferblatt, weil er bis jetzt nur digitale Uhren lesen kann. Er braucht eine Seife, um seine ewig dreckigen Hände zu waschen; eine Nagelbürste, gern in Nilpferdform, wäre auch nicht schlecht. Von Süßigkeiten allerdings rät sie ab.

Bei der Süßigkeitenfrage ist sie mit der gesetzlichen Schülerunfallversicherung Berlins einer Meinung. Deren Pressemitteilungen landen dank Kollegenunterstützung bei mir auf dem Tisch. Die Unfallkasse erläutert in devotem Ton, dass die Kinder zu fett seien und man ja statt Süßigkeiten auch Straßenmalkreiden und kleine Sportgeräte in die Schultüte packen kann: Hüpfseile, Gummibälle, Frisbees. Auch die Pädagoginnen aus dem Freundeskreis melden sich zu Wort. Sie raten: Ein Kuscheltier muss in die Tüte. Es sind Kinder, die nun in die Schule kommen. Sie sollen Kinder sein dürfen.

Selbst die Großtante aus dem katholischen Dorf hält sich mit ihrem Kommentar nicht zurück. Früher hätte man so was Neumodisches nicht gehabt. Stattdessen aber ein Poesiealbum. Sie hat ihres bis heute. „Rosen, Tulpen, Nelken / Alle Blumen welken / Nur die eine welket nicht / Diese heißt Vergissmeinnicht“, rezitiert sie ins Telefon.

Alle Ratschläge indes sind vergebens. Meine Freundin nimmt ihren Auftrag ernst. „Der hat mich nicht umsonst für dieses Initiationsobjekt ausgewählt“, verkündet sie stolz und schiebt den verschwörerischen Halbsatz „von kleinem Berliner zu alter Berlinerin“ hinterher. Seither ist sie im Schultütenfieber.

Die erste, an der sie vorbeilief, die mit Dinosauriern verziert war, kaufte sie. Der Preis war egal. „Wer weiß, ob ich je wieder eine sehe.“ Bald kam eine Piratenfahne, Piratentattoos zum Aufkleben und Piratenpflaster dazu. „Störtebeckers Erste Hilfe“ – das muss sein. Etwas unterwürfig steuerte ich den Piratenwecker mit Zifferblatt bei.

Bei nächster Gelegenheit brachte meine Freundin eine Muschel mit. Wenn man sie in Wasser legt, wächst ein Korallenstrauch raus. „Ich hab’ die geliebt.“ Geliebt hat sie auch kleine Figuren, die man an einem Plastikfallschirm aus dem dritten Stock schweben lassen kann, und Autoquartett. Wie eine Detektivin findet sie alles.

Außerdem besteht sie darauf, dass ein Block mit Kindermandalas in die Tüte muss. „Zur Selbstberuhigung.“ Mein Neffe gilt nämlich als Zappelphilipp. Als einer, dem man Rechnen am besten während des Fußballspielens beibringen sollte. Weil keine Schule Verständnis dafür hat, dürfte er es nicht ganz leicht haben. Wie Mandalas da helfen können, bleibt vorerst der Intuition der Berlinerin vorbehalten. Kuscheltiere hält sie in seinem Fall jedenfalls für zwecklos: „Solche Übergangsobjekte hat er noch nie angenommen.“

Bleiben zwei Fragen. Die erste ist die nach den Süßigkeiten. Knuddel-Knut(sch)s, Schaumzeug in Eisbärenform, müssen auf jeden Fall in die Tüte. Der Junge hält sie für magisch. Neulich knutschte seine elf Jahre ältere Cousine mit ihrem Freund. Eifersucht, die noch gar nicht so genannt werden kann, rührte sich. Denn der Kleine himmelt große Jungs an. Vor allem den Freund seiner Cousine. Weil er Zuckereisbären für verführerischer hält als Küsse, lief er mit seiner Dose Süßkram an den beiden vorbei und sagte: „Wenn ihr kommt, geb ich euch welche.“

Die zweite offene Frage ist die nach der Piratenschatztruhe. Wir würden gerne eine Halskette mit glänzenden Perlen in allen Farben hineintun. Mein Neffe ist selig, wenn er sich welche umhängen kann. Das allerdings dürfte auf große Widerstände bei meiner Schwester stoßen. „Halsketten für einen Jungen? Nein“, ruft sie entsetzt. Sie befürchtet – man kann es nicht anders sagen – schon jetzt das das Allerschlimmste.

Der Name der Autorin ist der Redaktion bekannt. „Ich will keinen Ärger mit meiner Schwester“, sagt sie.