LIEBER KONFETTI ALS ZERTRÜMMERTE KLOSCHÜSSELN
: Der Ballast des alten Jahres

VON JENS UTHOFF

Ich mag, wie Silvester riecht. Überall liegt diese leichte Prise von verbranntem Salpeter und Schwefel in der Luft. Dieser Geruch gehört dazu wie das rote Seidenpapier, das am Tag danach zermatscht, zerfetzt, verwaist in den Straßenrinnen liegt. Ich schlendere am Landwehrkanal entlang; er ist umgeben von einer Suppe aus Rauch und Dunst, fast sieht es aus, als staue sich da noch mal der ganze Ballast des alten Jahres, der sich später entladen soll. Jetzt, am frühen Silvesterabend, stehen überall kleine Grüppchen, Familien oder Jugendliche, und sind mit der Generalprobe beschäftigt. Heuler, Chinaböller, Kreisel.

Sowieso ist da diese merkwürdig angespannte Stimmung, die sich durch den Tag zu ziehen scheint. Im Bolu am Kottbusser Damm kloppen sich die Leute um Kartoffeln und Knoblauch, als stehe das letzte Abendmahl bevor. Nur der Verkäufer draußen singt sein altes Lied: „Banan’ ein Eulo“. Schlussverkauf. Auf dem Bürgersteig ein paar Meter weiter muss ich zum ersten Mal vor Böllern ausweichen.

Gegen kurz vor neun springe ich in die U8 und mache mich auf den Weg zu K., die zu Essen und Feierei eingeladen hat. Auf dem Bahnsteig stehen mehrere Mädels-Cliquen und tragen Haarreifen, auf denen ein „Happy New Year“-Schriftzug prangt. Ich ärgere mich, dass ich so was nicht habe.

In K.s Wohnung in Mitte angekommen, sitzen die Ersten in der Küche um das Buffet. Ein gemischter Haufen an Leuten – Lektoren, Übersetzer, Schriftsteller. Die meisten kennen sich nicht. Wir sind zunächst viel mit Vorstellen beschäftigt. Woher kommst du? Was machst du? Kennst du den und den? Langsam trudeln die etwa 20 Leute ein. Wir stehen gedrängt in der Küche und trinken Sekt.

Kurz darauf sitzen wir um den Wohnzimmertisch, vor uns eine Schüssel Wasser und eine große Kerze. K. hat aus einem Ramschladen einige Sets Bleigießen geholt. Für die meisten hier ist es das erste Mal Bleigießen. Reihum brutzelt jeder sein Löffelchen über dem Feuer und schleudert das Flüssigmetall in den Kübel.

Wir versuchen, die entstandenen Figuren zu deuten. Bei S. sind wir ziemlich sicher, er habe eine Zahnspange gegossen. Jemand anders gießt ein Schiff, mein Sitznachbar hat eine bleierne Sense in der Hand. Die meisten starren ratlos in ihre Hände und rätseln, was der Bleiklumpen wohl über das kommende Jahr aussagen soll. Zu meinem Gebilde fällt auch niemandem etwas ein. Ich bilde mir irgendwann ein, es zeige eine Madonna im Strahlenkranz; da bin ich aber auch schon sehr betrunken. Es ist wohl eher ein zerknülltes Halstuch. S. insistiert derweil ständig, man müsse die Gegenstände vor eine Lichtquelle halten und sie an die Wand projizieren. Keiner hat wirklich Lust auf diese Höhlengleichnispraxis.

Kurz vor zwölf Uhr. Schriftsteller D. und dessen Freundin J. sitzen silvestertrunken und selig auf dem Sofa, während die Ersten auf den Balkon gehen. Ein schönes Bild, wie er auf ihrer Schulter hängt und an ihren Klamotten und Haaren riecht. Irgendjemand hat den Fernseher angemacht. Kurz vor Mitternacht werden noch mal die Momente des Jahres gezeigt, beim Tor von Mario Götze sagt D.: „Genau richtig, das jetzt noch mal zu zeigen!“ Später schwenkt er Wunderkerzen, grölt „Deutschland“ und lacht sich kaputt. Wir sind bei angenehmem Nonsens angelangt.

Mitternacht drängt die ganze Meute auf den Balkon. Natürlich hat keiner von uns richtige Böller. Wir bewerfen uns mit Konfetti. Irgendwer holt so Stäbchen raus, aus denen gelbe Funken sprühen – unser Highlight. Die Gruppe, die an der U-Bahn-Station unter uns zündelt, ist auch nicht viel besser. Alle drei Minuten lassen sie mal was in die Luft fliegen. Wir feuern sie vom Balkon aus an, aber es hilft nichts. Nach zwölf gibt es noch eine Art Gin-Tonic-Tiramisu, es gibt Ska und Soul und Tanzen um den Tisch. Und Gedächtnislücken, also später. Ich weiß noch, dass ich mit den netten New Yorkern in der U8 nach Hause fahre; worüber wir sprachen, weiß ich nicht mehr.

Am nächsten Morgen liegen zertrümmerte Kloschüsseln, umgeschmissene Kühlschränke und haufenweise Böllerpapier bei uns auf der Straße. Die Briefkästen sind noch ausgehängt. Alles ist ruhig.