Ein Mann will nach unten

„Polizeiliche Traditionsreste in den Randzonen sozialer Sicherung. Eine Untersuchung des administrativen Instrumentariums zur Intervention bei Obdachlosigkeit“ – so lautet der Titel der Promotionsarbeit die Frank-Walter Steinmeier im Mai 1991 ablieferte. Neun Jahre zuvor, 1982, hatte er sein Erstes Staatsexamen als Jurist abgelegt, 1975, mit 19 Jahren, war der Detmolder Tischlersohn in die SPD eingetreten. Im Anschluss an seine Promotion ging Steinmeier als Referent für Medienpolitik in die Niedersächsische Staatskanzlei, wo ihn Ministerpräsident Gerhard Schröder 1993 zum Leiter seines persönlichen Büros machte. Als Schröder Kanzler wurde, nahm er Steinmeier mit ins Kanzleramt, von 1999 bis zur Abwahl Schröders 2005 war Steinmeier Chef diese Amtes. Zuständig war er in dieser Funktion auch für die Nachrichtendienste. Am 22.November 2005 wurde der heute 51-Jährige als Außenminister der Bundesrepublik vereidigt. TAZ

AUS BRANDENBURG UND JÜTERBOG JENS KÖNIG

Nein, das hier ist nicht Nicolas Sarkozy. Der Mann trägt auch keinen maßgeschneiderten Anzug. Vor ihm ist auch kein roter Teppich ausgerollt. Dieser Mann, der Frank-Walter Steinmeier, den Außenminister, gerade empfängt, hat sich eine braune Mönchskutte übergeworfen. Seine Füße stecken in grauen Socken. Er trägt Birkenstock-Sandalen.

„Lieber Frank-Walter!“, ruft der Mann. Der Minister steigt gerade aus dem Bus. „Ich habe einen Ablassbrief für dich. Wenn du mir den abkaufst, sind deine Sünden getilgt.“ Steinmeier lächelt verkrampft. „Ich habe keine Sünden begangen“, sagt er.

Vorsichtshalber schaut der Minister sich um. Kein Murat-Kurnaz-Plakat weit und breit.

„Kauf den Brief trotzdem“, antwortet der Mann. „Das gilt auch für deine Sünden der Zukunft.“

Steinmeier steht nicht vor dem pompösen Élysée-Palast in Paris, das ist ihm schon klar. Er lernt gerade seinen neuen Bundestagswahlkreis im westlichen Brandenburg kennen. Dieser trägt die Nummer 60 und zieht sich quer durchs Havelland. Ein karger, dünn besiedelter Landstrich. 15 bis 20 Prozent Arbeitslose. Das ganze Gegenteil von großer, weiter Welt. Aber dass ihn hier auf dem grau gepflasterten Bürgersteig in der Zinnaer Straße 17, direkt vor dem Haus des SPD-Ortsvereins Jüterbog, ein Mönch begrüßt – das verwirrt Steinmeier dann schon.

Der Mann stellt sich vor: Falk Kubitza, 45 Jahre alt, geborener Jüterboger, mit einer Jüterbogerin verheiratet, Vorsitzender des SPD-Ortsvereins Jüterbog.

Die Nummer mit dem Mönch ist seine Art, Politik zu machen. Er will, dass Jüterbog seine Geschichte besser vermarktet und damit Investoren in die Stadt lockt. Also spielt er ab und zu den Dominikanermönch Johann Tetzel. Der berühmte Ablassprediger war 1517 in Jüterbog. In zehn Jahren, wenn ganz Deutschland 500 Jahre Reformation feiert, will Kubitza mit der Tetzel-Geschichte Punkte machen. Steinmeier soll ihm dabei helfen.

Auf solche Ideen kommt eine Partei, die weder ein noch aus weiß. 8,5 Prozent hat die SPD bei der letzten Oberbürgermeisterwahl in Jüterbog eingefahren. Sie muss sich etwas einfallen lassen.

Steinmeier ahnt vielleicht jetzt erst richtig, worauf er sich eingelassen hat. Es ist ja auch ein ziemlich einzigartiges Experiment, das da auf seiner Reise durchs sozialdemokratische Unterholz zu beobachten ist. Hier will ein Mann nicht nach oben. Hier ackert sich einer nicht durch Ortsverein, Unterbezirk und Landesverband Stück für Stück an die politische Spitze. Hier steigt einer von der Spitze hinab, an die politische Basis, dorthin, wo Probleme noch richtige Probleme sind und keine luftig formulierten Versprechen in dicken Koalitionsverträgen. Ein Manager der Macht, der alles übers Regieren weiß, möchte sich in einen richtigen Politiker verwandeln. Aber geht das überhaupt?

Diese Frage wird sich Steinmeier vielleicht auch gerade stellen. Es ist der vierte und letzte Tag seiner Wahlkreistour, Samstagabend um halb acht, in der „Sportschau“ läuft die Bundesliga, und der Außenminister ist mit einem als Mönch verkleideten sozialdemokratischen Ortsvereinsvorsteher durch die menschenleeren Straßen von Jüterbog unterwegs. Wo sind bloß die Bürger, mit denen Steinmeier üben will, wie man unverkrampft ins Gespräch kommt, so von Politiker zu Wähler?

Falk Kubitza redet ununterbrochen auf seinen Gast ein. So viel wie Steinmeier in einer Stunde über Jüterbog erfährt, weiß er nicht einmal über das iranische Atomwaffenprogramm. Am historischen Dammtor halten sie an. Kubitza zeigt nach oben. „Wer seinen Kindern giebt das Brodt und leidet nachmals selber Noth, dem schlage man mit der Keule todt“, steht da ins Mauerwerk geschrieben. „Ganz schön brutaler Spruch, was?“, sagt Kubitza. „Aber in unserer Stadt haben wir viele Seniorenheime. Da sind die Worte vielleicht ganz angebracht.“

So viel wie Steinmeier über Jüterbog erfährt, weiß er nicht einmal über den Iran

Steinmeier lächelt. Er ist ein freundlicher Mensch. Er hat sieben Jahre lang für seinen Chef Gerhard Schröder das Kanzleramt geführt. Steinmeier blieb selbst dann noch ruhig, als Schröder vor Wut längst unter der Decke hing. Kubitza zieht sein Programm unbeirrt durch.

Die letzte Station ist das Fest im Stadtpark. Es ist rappelvoll. Alles potentielle Wähler. Sie sitzen an Holztischen, vor ihnen Bierbecher und Bratwürste. Steinmeier schiebt sich durch die Reihen. Einige Jüterboger blicken neugierig, andere zücken ihren Fotoapparat. Aber alle halten sie Abstand zu dem weißhaarigen Mann, der ihnen aus dem Fernsehen bekannt vorkommt.

Was Schröder jetzt gemacht hätte, weiß Steinmeier. Der wäre hin zu den Leuten, hätte ihnen seine rechte Pranke um die Schulter gelegt, sich ein Bier bestellt und erst mal sein Wolfslächeln aufgesetzt. Später hätte er sie laut lachend gefragt, ob sie das nächste Mal nicht SPD wählen wollen. Steinmeier traut sich auch hin und wieder, den Leuten auf der Straße in die Seite zu stoßen. Und wenn er einen guten Witz gemacht hat, entfährt seinem Mund ein gackerndes, derbes Lachen, das an Schröder erinnert. Sie sind beide in Ostwestfalen groß geworden.

Aber Schröders Bollertum hat Steinmeier nicht drauf. Er ist zurückhaltender, leiser. Er war eben immer die Nummer zwei. Auf dem Stadtfest setzt er sich lieber an den für ihn reservierten Holztisch. Der steht abseits, fast schon hinter der Bühne. Eine Rockband spielt. Man versteht sein eigenes Wort nicht. Nach zwanzig Minuten bricht Steinmeier wieder auf. Hier ist nichts zu holen.

Dieser Mann ist seit 31 Jahren in der SPD. Aber er besaß noch nie ein Parteiamt. Er hatte noch nie ein Abgeordnetenmandat. Er musste noch nie einen Wahlkampf für sich führen. In seiner Partei hat er keine Hausmacht.

Und trotzdem ist Steinmeier in den Umfragen der beliebteste Sozialdemokrat. Klar, dass das Begehrlichkeiten weckt, bei Steinmeier selbst und bei seinen Genossen. Im Oktober soll er zum stellvertretenden SPD-Vorsitzenden gewählt werden. Und bei der Bundestagswahl 2009 will er den Wahlkreis 60 gewinnen und in den Bundestag einziehen. Was immer dann die SPD im Allgemeinen und Parteichef Kurt Beck im Speziellen an Überraschungen bereithalten – Steinmeier wird darauf vorbereitet sein. Natürlich bestreitet er, SPD-Kanzlerkandidat werden zu wollen.

„Die Politik braucht unterschiedliche Typen“, sagt Steinmeier. „Die Rampensau, den Nachdenklichen, den eher Bauchgesteuerten und hoffentlich auch den, der mit Augenmaß eine gerade Furche zieht.“ Der mit der geraden Furche – damit meint er sich selbst.

Die Idee mit dem Wahlkreis hatte Matthias Platzeck, der Brandenburger Ministerpräsident. Solltest du jemals daran denken, einen Bundestagswahlkreis zu suchen, dann komm nach Brandenburg, hatte Platzeck ihn vor knapp einem Jahr gebeten. Steinmeier, obwohl in der niedersächsischen SPD zu Hause, sagte zu. Die beiden verstehen sich gut, sie sind befreundet und wissen, wie man in Platzecks Küche in Babelsberg Rotweinflaschen leert. Für Steinmeier hatte die Entscheidung außerdem praktische Gründe. Er wohnt mittlerweile in Berlin, in Zehlendorf. Sein Wahlkreis sollte nicht zu weit von seinem Haus entfernt sein. Seine Familie sieht ihn eh viel zu selten. Am 6. Juli trat Steinmeier in den SPD-Ortsverein Kirchmöser/Plaue ein.

Schröders Bollertum hat Steinmeier nicht drauf. Er ist zurückhaltender

Fragt man Platzeck, was Steinmeier in Brandenburg lernen kann, antwortet er: „Mit beiden Beinen im Leben zu stehen. Aber das beherrscht er ja schon.“

Am Freitagabend feiert der SPD-Unterbezirk Brandenburg sein Sommerfest. Alle sind sie gekommen, um den prominenten Wahlkreiskandidaten endlich persönlich kennenzulernen, auch die Genossen seines Ortsvereins aus Kirchmöser. Platzeck begrüßt Steinmeier als „exzellenten Außenminister“ und „exzellenten Menschen“. Die Brandenburger würden jetzt schon merken, welche Bereicherung er für ihr Land sei. Alle würden von der tollen Reise Steinmeiers durchs Land schwärmen. Davon, wie bodenständig er sei, dass er gut zuhören könne, dass er pragmatisch an die Dinge herangehe. Jüterbog stand da noch bevor.

Margit Spielmann war mit Steinmeier die ganze Zeit unterwegs. Sie ist die Bundestagsabgeordnete, die diesen Wahlkreis dreimal hintereinander gewonnen hat und ihn jetzt an ihren Nachfolger abgibt. Ob irgendetwas an Steinmeier sie überrascht habe? „Seine Gelassenheit“, sagt sie. „Der wirkt trotz seiner Verantwortung so aufgeräumt.“

Steinmeier lernt gerade, wie er sein Image pflegt. Auf dem Sommerfest holt er die Genossen seines Ortsvereins zu einer ersten improvisierten Versammlung zusammen. Dass an dem Plastiktisch auch Journalisten stehen, stört ihn nicht, im Gegenteil.

„Was gibt’s an brennenden Sachen, die ich wissen muss?“, fragt Steinmeier in die Runde. Er erhält einen ersten Überblick: Das zweite Gewerbegebiet in Kirchmöser braucht Investoren, und ein altes sowjetisches Ehrenmal steht auf einem schwermetallverseuchten Gelände. Steinmeier will gleich Nägel mit Köpfen machen: „Wann sehen wir uns vor Ort?“ Eine Genossin, noch etwas aufgeregt, antwortet: „Da richten wir uns ganz nach Ihren Terminen.“