MIT SIEBEN WIRD ES PEINLICH
: Die Warnweste

Sicherheit? Lieber sterben als scheiße aussehen

„Papa! Ich möchte die nicht anziehen.“ Ginge es nach mir, könnte meine Tochter darauf verzichten. Aber in Fragen von Leben und Tod unserer Kinder entscheidet bei uns meine Freundin. Die hat gelesen, dass Signalwesten das Unfallrisiko für Schüler erheblich verringern.

Auf dem Weg zur Samariterkirche, wo Hannah mit einer Klassenkameradin verabredet ist, mit der sie zur Schule geht, hört sie nicht auf zu quengeln. „Du kannst uns doch bringen. Dann kann ich die auslassen.“ Es muss ihr sehr schlecht gehen, wenn sie es vorzieht, von mir begleitet zu werden. Normalerweise ist es ihr bereits unangenehm, wenn ich das Schulgelände nur betrete. Sie ist zwar erst sieben, hat aber längst ein Gespür dafür, was peinlich ist. Wir als Eltern zählen manchmal dazu. Und Signalwesten in Leuchtfarben.

„Mama hat das so entschieden.“ „Aber das sieht total doof aus. Marta hat auch keine.“ „Dafür wird sie dann vom Auto überfahren“, erkläre ich. Es interessiert sie nicht. Lieber sterben als scheiße aussehen.

„Keiner hat eine Weste.“ „Natürlich!“, widerspreche ich. Wir erreichen vor Marta den Treffpunkt. Ich halte Ausschau nach einem Kind, das meine Behauptung stützt. Zahlreiche Grundschüler passieren, in Begleitung und ohne. Keine Weste weit und breit. Dafür ein etwa zehnjähriger Junge auf dem Fahrrad ohne Helm. Was ist mit den überängstlichen Friedrichshainer Eltern, wenn man sie braucht? Doch, auf der anderen Straßenseite. Endlich! Ein Mädchen, vielleicht ein Jahr älter als Hannah. Es wirkt nicht sehr glücklich. Egal: „Schau!“, sage ich zu meiner Tochter. Die Mutter verabschiedet sich gerade von ihrem Kind. Als sie um die Ecke gebogen ist, setzt das Mädchen seinen Rucksack ab und zieht ihre Warnweste aus. Hannah blickt mich triumphierend an. Ich gebe mich geschlagen. „Okay. Kannst du auslassen. Aber nicht Mama verraten!“ STEPHAN SERIN