Krawallvideos, die nichts beweisen

PROZESS In Dresden steht wieder der Berliner Antifa Tim H. vor Gericht. Die Anklage gerät ins Trudeln

Sogar Staatsanwältin Diana Büch nahm den Polizeibeamten regelrecht auseinander

DRESDEN taz | Zwei Jahre nach seiner Verurteilung wegen angeblichen schweren Landfriedensbruchs steht der Berliner Tim H. seit Dezember erneut vor Gericht. Diesmal vor dem Landgericht Dresden als Berufungsinstanz. Der Staatsanwaltschaft Dresden genügte die Verurteilung zu einem Jahr und zehn Monaten Freiheitsstrafe ohne Bewährung nicht, die Amtsrichter Hans-Joachim Hlavka wegen angeblicher Rädelsführerschaft H.s bei Ausschreitungen von Gegnern des Dresdner Nazi-Aufmarsches 2011 verhängt hatte.

Die nach dem damaligen Urteil heftigen Proteste von Linken und Bürgerrechtlern wiederholten sich auch am Dienstag. Der Jenaer Jugendpfarrer Lothar König und Freunde standen mit dem nach Beendigung seines eigenen Verfahrens zurückerhaltenen Lautsprecherwagen vor dem Gerichtsgebäude.

Am gestrigen dritten Verhandlungstag konnte auch die Öffentlichkeit erstmals Polizeivideos einsehen, die die Schuld von Tim H. beweisen sollten. Ihm wird vorgeworfen, in der Dresdner Südvorstadt am 19. Februar 2011 mit einem Megafon zum gewaltsamen Durchbruch einer Polizeisperre aufgefordert zu haben. Damals kam es neben friedlichen Massenprotesten gegen den Missbrauch des Dresdner Zerstörungsgedenkens auch zu schweren Ausschreitungen. Nur wenige tatsächliche Gewalttäter konnten ermittelt und bestraft werden.

Die bei der Verfolgung von Nazi-Gegnern überaus eifrige Dresdner Staatsanwaltschaft griff sich vielmehr bekannte Gesichter wie Jugendpfarrer König heraus und beschuldigte sie des schweren Landfriedensbruchs. Tim H. arbeitet in der Bundesgeschäftsstelle der Linken.

Die Filmaufnahmen vom 19. Februar waren von einem Polizeiteam aus Baden-Württemberg angefertigt worden, wurden aber in der Dresdner Soko 19 ausgewertet. Der damit befasste Polizeimeister Unger verwickelt sich gestern als Zeuge in Widersprüche. Die Videos zeigen in der Tat den gewaltsamen Durchbruch von etwa 600 Demonstranten gegen nur elf Polizisten und schlachtartige Szenen. Geradezu willkürlich sind aber Video-Fotos von Tim H. danebengestellt worden, deren Zusammenhang mit dem Tatgeschehen nicht erkennbar ist. Nach Erkenntnissen der beiden Verteidiger, die die 200 Stunden Original-Videomaterial ebenfalls ausgewertet haben, existiert ein solch schlüssiger Videobeweis auch nicht. Sogar Staatsanwältin Diana Büch nahm den Polizeibeamten und seine Arbeitsweise regelrecht auseinander.

In der Beweisaufnahme sollen noch drei Zeugen vernommen werden. Sollte auf sie verzichtet werden, ist in Kürze ein Berufungsurteil zu erwarten.

MICHAEL BARTSCH