ORTSTERMIN: EINE BEGRÄBNISMUSIK MIT UNGEWOLLTEN SZENISCHEN ANTEILEN
: Herr Bach, das Buffet und die Folgen

„Bitte benutzen Sie die Seitenausgänge“, sagt eine Frau vom Musikfest – in der Eingangshalle arbeitet der Notarzt

Der erste Rettungswagen kommt um 20. 27 Uhr. Da hat Carlos Menas gerade mal sein Rezitativ beendet: „Ach Leopold! Der Gott getreu und seinem Lande hold, der niemals, wünschen wir, versterben hat gesollt.“ Der Mann, der nun auf einer Bahre aus der Bremer Liebfrauenkirche getragen wird, ist Gott sei Dank keineswegs tot – aber auch nicht, bei weitem nicht, der einzige Zuhörer, der während dieser Aufführung der Bach’schen Begräbnismusik für Leopold von Anhalt-Köthen plötzlich umkippen wird.

Raphaël Pichon und sein preisgekröntes Ensemble Pygmalion warten geduldig, bis wieder Ruhe einkehrt. Doch kaum hat Carlos Mena, ein wunderbarer Counter-Tenor, der lediglich mit einem nicht gänzlich integrierten Brustregister Probleme hat, seine „Weh und Ach“-Arie angestimmt, wird im Publikum der Nächste bewusstlos. „Zum Glück“, flüstert ein Zuhörer, „habe ich mir kein Krabbenbrötchen genommen.“

Der Mann gehört offenbar zu den geladenen Gästen: Beim Bremer Musikfest, in dessen Rahmen Bachs vollständig rekonstruierte Köthener Trauermusik erstmals aufgeführt wurde, gehören Sponsorenempfänge meist zum Abendprogramm, Buffet inklusive.

Der Chor beschwört derweil den „teuren Fürsten-Geist“: „Komm wieder, beseele die erstarrten Glieder ...“. Hier hat man eine Original-Besetzung vor sich, vier SängerInnen pro Stimme, Solisten eingeschlossen. Dass der Chor trotz herausragender solistischen Kapazitäten perfekte Homogenität erreicht, gehört zu den beglückenden Erlebnissen des Abends. Nun aber kippt – diesmal direkt neben dem Rezensenten – der nächste Zuhörer um: Die Gesichtszüge werden wächsern, er sinkt nach hinten, dann auf die Seite. Wieder kommen Sanitäter.

Die Musiker spielen tapfer weiter. Mit James Gilchrist verfügen sie über einen außergewöhnlichen Tenor, doch selbst dessen ebenso emotional bewegte wie dicht geführte Stimme kann nicht die gesamte Konzentration auf sich ziehen. Die Augen der Zuhörer wandern im Kirchenschiff umher: Von wo ist der nächste Rumms zu hören?

Hinter dem Ostfenster mit seinem herrlichen gotischen Maßwerk blinken Blaulichter. „Bitte benutzen Sie die Seitenausgänge“, sagt eine Frau vom Musikfest zu Beginn der Pause – in der Eingangshalle arbeitet der Notarzt.

Für Bach war die Köthener Trauermusik mehr als ein protokollarischer Auftrag. Mit dem unerwartet verstorbenen jungen Fürsten verband ihn viel: Leopold war Pate seines Sohnes und spielte in der Hofkapelle selbst als Geiger mit. Bach hatte hier glückliche Jahre als Kapellmeister, überschattet allerdings vom Tod seiner ersten Frau. Kurz: In der „Verabschiedung eines Fürsten“ steckte Herzblut.

Was nun im Bremer Sponsoren-Buffet steckte, ist unklar. „Wir können die Vorfälle nicht vollständig erklären“, sagt der Musikfest-Sprecher. Nur fünf Empfangsteilnehmer hätten behandeln werden müssen, obwohl wesentlich mehr das Gleiche zu sich nahmen. Mindestens fünf weitere schafften es aus eigener Kraft hinaus. Mittlerweile sind alle wieder wohlauf. HB